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Von Seoul bis Berlin

So wirkt Entsiegelung: Städte, die schon früher entsiegelt haben, berichten.

Eine Frau bei der Gartenarbeit, sie hebt gerade mit beiden Händen einen quadratischen Pflasterstein aus der Erde.
In niederländischen Gemeinden wird um die Wette entsiegelt – seit 2020 wurden so 9 Millionen Pflastersteine entfernt. Foto: IAMKAT

Laut Austrian Panel on Climate Change könnte Wien bis Ende des Jahrhunderts bis zu 55 Hitzetage pro Jahr erleben. Kein Wunder, dass die Stadt in ihrer Klimastrategie stark auf Entsiegelung setzt – Grünflächen können ihre Umgebung im Vergleich zu Asphalt um mehrere Grad abkühlen. Auch in Paris treibt Bürgermeisterin Anne Hidalgo groß angelegte Begrünungsprojekte voran, etwa den neu angelegten Stadtwald vor dem Rathaus. Wie stark Entsiegelung wirken kann, zeigen aber jene Städte, die diesen Schritt schon früher gewagt haben.

Artenvielfalt steigt auf das Siebenfache

In Seoul legte die Stadt den Cheonggyecheon nach Jahrzehnten wieder frei. Entlang des Flusses zeigt das Thermometer bis zu sechs Grad Celsius weniger als in parallel verlaufenden Straßen. Der neu entstandene Windkorridor verbessert die Durchlüftung, zugleich sank die Feinstaubbelastung deutlich. Und die Artenvielfalt nahm sichtbar zu – im Schnitt um das Siebenfache. Zahlreiche Fisch-, Vogel- und Insektenarten sowie aquatische Wirbellose siedelten sich wieder an. Und am Ufer wachsen heute über 300 verschiedene Pflanzenarten.

Zu mehr Biodiversität im unmittelbaren Wohnumfeld führt auch das „Tegelwippen“ in den Niederlanden: Dabei werden jedes Jahr bis zu 5,5 Millionen Pflastersteine aus privaten Gärten entfernt. Die Initiative zeigt, wie Klimaanpassung direkt in den Nachbarschaften stattfinden kann. Teilnehmende berichten, dass ihre Gärten trotz sommerlicher Hitze wieder einladender sind, auch kommt es nun zu weniger Überflutungen nach Starkregen. Wo zuvor Stein war, entstehen Grasflächen, Beete oder Fassadengärten – Lebensraum für Kleintiere und Erholungsraum für Menschen zugleich.

Neue Räume für Begegnung

Auch das Berliner Gleisdreieck hat durch Entsiegelung neue Qualitäten gewonnen: Das ehemalige Bahnhofsgelände bringt als grüner Freiraum mit zahlreichen Sportangeboten heute Menschen mit unterschiedlichen Interessen zusammen. Auch in Seoul besuchen täglich mehr als 60.000 Menschen das Areal am Cheonggyecheon. Feste, Konzerte und Aufführungen machen den Fluss zu einem beliebten sozialen Treffpunkt – selbst die Nutzung von Bus und U-Bahn in der Umgebung stieg an. Ähnlich erging es auch dem ehemaligen Michelin-Industriegelände im Trienter Quartier „Le Albere“: Fuß- und Radwege sowie der öffentliche Nahverkehr wurden ausgebaut, wodurch das Mobilitätssystem modernisiert und Umweltbelastungen deutlich reduziert wurden. Der Autoverkehr beschränkt sich auf die Hauptachsen, während sich der öffentliche Raum angenehm ruhig und sauber präsentiert. Seit der Entsiegelung ist die Umgebungstemperatur um rund ein Grad Celsius gesunken.

Ein Fluss schlängelt sich durch eine Großstadt, gesäumt nicht nur von den Bäumen am Ufer sondern auch von um ein Vielfaches höhere Wolkenkratzer.
In den 1960er-Jahren wurde der Fluss überbaut, vor rund 20 Jahren machte Seoul die Entscheidung rückgängig: Der Fluss kehrte auf sechs Kilometern ins Stadtbild zurück. Foto: Jieun Kim/unsplash

SEOUL
CHEONGGYECHEON

In den 1960er-Jahren wurde der Fluss überbaut, vor rund 20 Jahren machte Seoul die Entscheidung rückgängig: Der Fluss kehrte auf sechs Kilometern ins Stadtbild zurück.


NIEDERLANDE
TEGELWIPPEN

Während der Pandemie 2020 entstand die Idee, Pflastersteine aus Gärten zu entfernen. Daraus wurde ein landesweiter Wettbewerb: Über 200 Gemeinden treten jährlich gegeneinander an.

Werbeplakat des Entsiegelung-Wettbewerbes: Vor gewittegrauem Himmel stehen einander ein Mann und eine Frau gegenüber, konkurrierend, mit entschlossen gesenkten Köpfen, rundherum Nebelschwaden. Darunter wehen eine gelbe und eine orange Flagge mit Wappenlöw
Foto: Tegelwippen
Allein im Vorjahr verschwanden 5,5 Millionen Steine. 


TRIENT
QUARTIER LE ALBERE

Anstelle der früheren Michelin-Werke entstand ab den 2000er-Jahren ein neues Stadtviertel mit Wohnungen, Hochschul- und Geschäftsgebäuden. Von den zwölf Hektar sind heute 46 Prozent entsiegelt und als Grünflächen gestaltet, die das Quartier mit der Etsch verbinden.

Stadtquartier Le Albere, Trient. Foto: René Riller

BERLIN
PARK AM GLEISDREIECK

Auf dem ehemaligen Bahngelände entstand vor gut zehn Jahren ein neuer, 26 Hektar großer Stadtpark. Der vielfach ausgezeichnete Park leitet seinen Namen von den alten Knotenpunkten ab und wurde als Ausgleichsmaßnahme zur Bebauung des Potsdamer Platzes gestaltet. 

Durch einen riesigen Park  ziehen sich die Geleise einer stillgelegten Bahnlinie. Zwischen Holz und Stahl wachsen Gräser und blühende Pflanzen aus dem Schotter.
Blick in den östlichen Teil des "Park am Gleisdreieck" in Berlin. Foto: Konstantin Boerner

Aufwertung mit Schattenseiten

Durch die Aufwertung des Stadtviertels „Le Albere“ stiegen jedoch die Wohnpreise, sodass die Belegung 2021 nur bei etwa 50 Prozent lag. Trotz Cafés, Grünflächen und kulturellen Angeboten ist es nachts fast menschenleer. Diese Leere nutzen auch Geflüchtete, die sich entlang der Flussbrücke niederlassen – sie schätzen die Gegend wegen ihrer Ruhe und der stillschweigenden Duldung durch die Bevölkerung als Schlafplatz.

In Seoul steht hingegen die Gefahr von Gentrifizierung im Raum – der Verdrängung sozial schwacher durch wohlhabendere Bewohner*innen. Eine Untersuchung der Universität Tübingen fand dafür Anhaltspunkte: steigende Mietpreise, ein verändertes Angebot an Geschäften und Dienstleistungen sowie höhere Preise in Flussnähe. Belege für eine tatsächliche Verdrängung oder einen vollzogenen demografischen Wandel fehlen bislang. Zugleich bleibt die Gegend äußerst attraktiv für Cafés, Restaurants und Hotels; die Grundstückspreise stiegen um bis zu 50 Prozent. Auch die Zahl der Unternehmen und Arbeitsplätze nahm stärker zu als im übrigen Stadtgebiet.

Die gegenwärtige Entsiegelung ist in vielen Städten ein unerlässlicher Schritt, um der klimabedingten Überhitzung entgegenzuwirken. Neben der neu gewonnenen Lebensqualität durch naturnahe Erholungsräume rücken jedoch Fragen nach sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund. Klar ist allerdings: Wo der Asphalt weicht, kehrt das Leben zurück.

Christiane Hörmann