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Fesseln lösen, Stühle werfen

Ivana Vlahusic: Heute möchte ich euch von meinen zwei Uromas erzählen. Die eine hat sich alles gefallen lassen, die andere hat Stühle geworfen.

alte stuhl, rocker, teppich, decke
Jazella-pixabay-chair

Meine Uroma väterlicherseits war eine fromme Frau. Aus Geschichten weiß ich, sie war die hübscheste Frau in ihrem Dorf. Ihr Mann, mein Uropa, war ein großer, fleißiger Mann und er hat sie regelmäßig geschlagen. Er durfte auch alles machen. Und die Uroma durfte selbstverständlich nichts machen. Auf der Straße musste sie Kopftuch tragen, um ihr schönes Gesicht zu bedecken, um zu vermeiden, dass sie ein anderer Mann ansieht. Hatte sie ein Mann angeschaut oder sie auf ihre Schönheit angesprochen, dann wurde sie vom Uropa geschlagen. Was vor hundert Jahren normal, ja erwünscht war, um die Männlichkeit zu demonstrieren, ist heute unvorstellbar oder zumindest verboten. Doch meine Uroma hat sich für ihre Zeit völlig normal verhalten.
Im Gegensatz zu ihr war meine Uroma mütterlicherseits für ihre Zeit absolut nicht normal. Einmal wollte sie der Uropa schlagen, sie hatten einen Streit in der Küche. Meine Uroma nahm einen Stuhl und warf den auf ihn. Er war zutiefst beleidigt. Er ist drei Monate nicht mehr nach Hause gekommen. Es gibt viele Dinge, die besonders sind an dieser Frau, aber eine Sache aber möchte ich euch unbedingt noch erzählen. Diese meine Uroma :-) war in ihrem Dorf die erste Frau, die sich getraut hat, Hosen zu tragen.
Ich bin eine Frau und trage auch die meiste Zeit Hosen. Und ich sag’s euch. Sollte mein Freund mal glauben, mich schlagen zu dürfen, nehme ich den nächsten Stuhl und schmeiß den auf ihn. Auch nach drei Monaten braucht er nicht mehr nach Hause kommen.
Jugendliche zu mobilisieren, uns zu stärken bedeutet nicht, uns eine Stimme zu geben, die Stimme haben wir schon. Man soll auch nicht nur unsere Interessen artikulieren. Doch wir brauchen euch, wir brauchen Erwachsene, wir brauchen Institutionen, Websiten, Unternehmen, Soziale Netzwerke als “Verstärker” unserer Stimmen. Auf dieser Welt gibt es für Jugendliche mehr als Snapchat, Fifa, Fortnite, hübsches tumblr-/Instagramfeed und Hausaufgaben. Man darf und soll uns was zutrauen. Auch gibt es Ziele größer als Zentralmatura, erfolgreiche PISA-Tests und Schularbeiten - eine Zahl sagt nichts darüber aus, wer wir sind als Menschen. Die Schule ignoriert das gerne. So gehen Talente unter, und so verlieren wir alle. Verstärken wir hier die Jugendlichen, indem wir ihnen sagen: Eure Ideen können innovative Lösungen für soziale Fragen bieten, die wir nicht beantworten konnten noch können. Es ist sehr erwünscht, dass ihr euch an der Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft beteiligt

An Lehrer, an Eltern, Erzieher und Erwachsene appelliere ich: Lehrt eure Kinder Mündigkeit. Wir müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Vernor Munoz, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, drückt das so aus: “Wir müssen die Fesseln lösen, die uns davon abhalten, proaktive, verantwortliche und empathische Positionen beim Aufbau einer Kultur des Respekts vor den Menschenrechten aller Menschen zu ergreifen.”
Wer hat meinen Autopiloten programmiert? Oder, was sind die Fesseln, von welchen ich mich lösen muss?
Wenn eure Projekte die Sonntagspredigt sind, dann löst ihr die in unserer Gesellschaft fast angeborenen Fesseln der Ignoranz, der Bequemlichkeit. Das ist ein großer Schritt. Doch die Fesseln, die uns von der Montagsgewohnheit trennen, lassen sich nicht so leicht lösen: Sie sind institutionell, im System und in unserem Denken verankert, zusammengewachsen, schwerer geworden.
Aber sie warten darauf, gerissen zu werden.

Eine Frau, die sich entscheidet, Hosen zu tragen, wenn das nicht dem Mainstream entspricht, ist mutig. Sie ändert die Richtung, in die sich ihre Zeit bewegt, für sich selbst, auch aber für viele andere Frauen - und Männer!!! - in ihrem Dorf.

Leistet einen einen wichtigen Beitrag zu einer Zukunft und Bildung, die nicht nur auf Nachhaltigkeit und Veränderung setzt, sondern auch die Veränderung sein kann und eine Welt, die wir uns für unsere Kinder wünschen - und ihre Welt ist nicht das, was wir heute normal nennen.

Ivana Vlahusic
Foto: Christof Hütter Photography

Ivana Vlahusic, 19, Rednerin/Referentin, Storytellerin/Erzählerin, Maturantin/Gymnasiastin, hat als Muttersprache Ungarisch Vatersprache Serbisch, Lieblingssprache Musik, komponiert Lieder auf Deutsch. Schreibt und liest außerdem alles mögliche, redet viel in unterschiedlichen Sprachen, reist und lernt gerne Neues kennen, neue Menschen... lebt für Begegnungen. Hier geht‘s zu ihrem Musikvideo.