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Eintauchen statt Abtauchen

Damit sich Kinder in der digitalen Medienwelt zurechtfinden können, brauchen sie Begleitung, keine Verbote. Ein Überblick über die Möglichkeiten digitalen Mitmachens.

Ein Mädchen hält sich lachend eine VR-Brille vors Gesicht.
Foto: Insung Yoon, Unsplash

„Sie haben das Ende des Internet erreicht. Vorschlag: Lesen Sie ein Buch”, stand auf einer Webseite, die in den 90er Jahren gerne verlinkt wurde. Eine Lesart der digitalen Welt, die heute, 30 Jahre später unvorstellbar ist: die Idee, dass irgendwann Schluss ist. Wer in dieser Frühzeit des Internets mit Computern aufgewachsen ist, kann sich vielleicht noch erinnern: an eine Zeit vor Autoplay, vor Endless Scrolling, Social Media und Smartphones. Wer nicht irgendwo hingeklickt hat, bewusst mit der Maschine interagiert hat, wurde auch nicht mit weiteren Inhalten versorgt, besser gesagt: mit Content belästigt.

Die dauernde Verfügbarkeit digitaler Medien auf Smartphone, Fernseher, Tablet und Computer wird in der Öffentlichkeit oft verteufelt. Zu viel Medienkonsum würde den Kindern schaden, die Gesellschaft verblöden, suchtanfällig machen und nichts weniger als Sprache und Kultur zerstören. Im Internet lauerten die Pornografie und Fake News, Computerspiele würden unsere Kinder unumkehrbar auf Schiene in Richtung Bewegungsmangel, Diabetes und Schwachsinnigkeit stellen.

Als „User*innen geboren”

Die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder heute mit der digitalen Welt umgehen lernen, haben sich grundlegend geändert. Als die Eltern von heute Kinder waren, gab es den „Personal Computer” – dass ein Computer für die Mittelklasse erschwinglich war, nicht das Raumvolumen einer Vier-Zimmer-Wohnung in Anspruch nahm oder den Stromverbrauch einer Kleinstadt hatte, war eine Innovation. Auch das Internet war verfügbar. Einwählen, zurücklehnen und zuhören: „Triiii, trilliilili, takatakatak … brazuuuuu, triii … liiii … tapatapatak.“ Sobald der Ton verklungen war, lief die Zeit. Zeit, in der die Telefonleitung durch die Netznutzung belegt war. Währenddessen angerufen werden: Essig. Digitale Medien zu nutzen war ein Privileg und nicht billig – der Schock kam spätestens mit der Telefonrechnung. Die 28,8 Kilobit Verbindung war langsam, die Ereignisdichte, die Geschwindigkeit der Stimulation niedrig.

Die digitalen Pioniere, die heute erwachsen sind, hatten oft eine Biografie, die von sozialer Isolation geprägt war, das Internet war ihr Ausweg. Heute ist es ganz normal und sozial erwünscht, sich mit Computern auszukennen. Kinder lernen von ihren Eltern, entwickeln digitale Intuition. Darin nur eine Gefahr zu erkennen, greift zu kurz. Fit für das Leben im 21. Jahrhundert zu sein, heißt mit digitalen Medien umgehen zu können.

Positive Ergänzung oder Shut-Up-Toy?

Eltern müssen heute in der Lage sein, Kinder fit für die digitale Zukunft zu machen, und sie zu einem gesunden Nutzungsverhalten anleiten. Wer eine lange Autofahrt mit weinenden Kindern auf dem Rücksitz absolviert hat, weiß: Kinder geben Ruhe, wenn sie sich auf dem Smartphone oder Tablet etwas anschauen dürfen. „Dafür habe ich vollstes Verständnis”, sagt der Psychotherapeut Dr. Dominik Batthyány und lacht. Der Leiter des Instituts für Verhaltenssüchte an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und Experte für Spiel- und Mediensucht hat vier Kinder unter zehn Jahren. „Wenn ich meine Kinder gelegentlich zehn Minuten vor ‚Peppa Pig‘ oder Ähnlichem parke, um zum Beispiel etwas in Ruhe erledigen zu können, wird das nicht sonderlich schädlich sein.” Das hat aber auch einen Preis: Man muss Grenzen setzen. Nach Ablauf einer vernünftigen Nutzungszeit muss das Video wieder ausgeschaltet werden. Das führt oft zu Frustration, zu Tränen – das kann für die Eltern sehr anstrengend sein. Dabei können Einstellungen helfen: Autoplay ausschalten, dann ist nach einer Episode Schluss.

Digitale Medien mit einer großen Sogwirkung bezeichnet Batthyány als Shut-Up-Toys. „Kinder sind lebendig und laut, kaum setzt man sie vor einen Screen, sind sie still und wie abgedreht.” Schadet der digitale Medienkonsum zum Überbrücken von Langweile Kindern in ihrer Entwicklung? Die biozertifizierte Holzeisenbahn war ja nicht billig und wir wollen gute Eltern sein. „Wenn Kinder, immer wenn sie frustriert sind oder ihnen langweilig ist, zum Smartphone greifen dürfen, führt das schon zu einer Gefahr. Beim Heranwachsen geht es auch darum, mit der inneren Welt, den Gefühlszuständen einerseits und den Problemen der äußeren Welt andererseits gut umgehen zu können. Nur wenn man sich dem Leben mit seinen Facetten und Herausforderungen stellen lernt und an ihnen wächst, wird man eine reife Persönlichkeit”, sagt Batthyány.

Dazu gehört neben allen anderen Aspekten des Lebens auch die Mediennutzung. Kinder lernen durch das Vorbild ihrer Eltern, sie müssen begleitet werden, damit sie sich in der digitalen Welt zurechtfinden. Eltern sollten ihr eigenes Nutzungsverhalten reflektieren, vielfältige Angebote machen und mit ihren Kindern über den Umgang mit digitalen Medien sprechen: Du darfst jetzt zehn Minuten Cartoons schauen, dann spielen wir gemeinsam mit der Eisenbahn. Durch das gemeinsame Nutzen können Eltern lernen, dass diese Medien eine große Anziehungskraft haben, meint Batthyány. Was für Kinder attraktiv ist, sollen Eltern nicht mit Sätzen wie „Dreh endlich den blöden Cartoon ab” entwerten.

So wie mit dem Umgang mit Gefühlen ist es auch mit dem Erlernen der Sprache. „Die Interaktion mit Menschen ist für die Sprachentwicklung in den ersten Jahren ganz zentral, das Um und Auf ist interaktive Kommunikation”, sagt Zwetelina Ortega. Die Linguistin und Mutter betreibt die Sprachschule LIMU-Academy und berät Eltern, deren Kinder mehrsprachig aufwachsen. Medien, die Interaktion und Kommunikation fördern, sind nützliche Tools. „Ein Spiel, das online stattfindet, hat eine starke kommunikative Dimension, weil man mit anderen Menschen in Kontakt ist. Das ist an sich sehr gut”, sagt Batthyány und ergänzt: „Solange man sich nicht hinter dieser Kommunikationsform versteckt und es eine verdeckte Form des Rückzugs ist.“

„Altersgerechte Medien, die gemeinsam ausgewählt werden, in einem gewissen Maß zu nutzen, ist wertvoll. Es ist ein Vorteil, wenn man das gemeinsam macht. Wenn es nicht zu lange ist, kann das Kind das auch alleine machen”, sagt Ortega. Mit fünf Jahren haben Kinder die Sprache als Wahrnehmung der Welt gefestigt. Wenn das Gehirn eine gewisse Reife erreicht hat und Strukturen gefestigt sind, können Kinder von Cartoons auch neue Inhalte mitnehmen. Das kann sogar beim Erlernen einer zweiten Sprache helfen.

Richtwert für die Nutzungszeit

Kinder unter zwei Jahren: nach Möglichkeit auf digitale Medien verzichten oder die Nutzung stark einschränken
Kindergartenalter: 30 Minuten digitale Medien pro Tag
Volksschulalter: 60 Minuten digitale Medien pro Tag
Kinder ab 10 Jahren: 90 Minuten digitale Medien pro Tag, eigenes Smartphone

Medienratgeber für Familien: www.schau-hin.info

Ein grünes Banner mit dem Lebensart-Schriftzug weist auf die Abomöglichkeit mit 5 Ausgaben pro Jahr hin

Jugendsprache? Eh nice.

Der Meinung, dass Messenger Apps und Social Media die Sprachentwicklung stören, widerspricht die Expertin: „Schrift bleibt sehr aktuell, digitale Medien funktionieren zu einem großen Teil schriftlich.” Beim Praktizieren der Schriftsprache können die Devices sogar helfen, weil Kinder die lese- und schreibefaul sind, sich oft trotzdem dafür begeistern können. „Kinder, die nicht genug Kontakt zur Schriftsprache haben, haben eine zu kleine Welt, ein eingeschränktes sprachliches Repertoire.” Die digitale Jugendsprache, die aus Anglizismen und Abkürzungen besteht, sollen Eltern ihren Kindern nicht verbieten. „Sie kreieren etwas Eigenes und grenzen sich von den anderen Generationen ab”, sagt Ortega. „Zusätzlich brauchen Jugendliche genug Kontakt zur Standardsprache, um für jede Situation eine adäquate Sprache zu finden.“

Aktiv werden: Digitale Gatschhose

Um die Welt zu entdecken, müssen sich Kinder schmutzig machen dürfen. Die Gatschhose anziehen und in Lacken springen. Mit der digitalen Welt ist das genauso und Möglichkeiten gibt es viele. „Wenn es nach gegrilltem Huhn riecht, hältst du den Lötkolben falsch herum”, sagt Mitch Altman und lacht. Der selbsterklärte Hacker und Erfinder hat die Plattform Arduino entwickelt, um jenen die Welt der Elektronik und des Hackings zu eröffnen, die keine Vorkenntnisse in Elektrotechnik und Informatik haben und noch nie gelötet haben. „Arduino erleichtert es, mächtige Projekte zu realisieren. Du kannst Computerchips nutzen, ohne dich mit der Kommandozeile herumschlagen zu müssen”, sagt er. Altmans Lieblingsprojekt, das Kinder und Jugendliche mit Hilfe ihrer Eltern umsetzen können, ist die „TV-Be-Gone”, eine Universalfernbedienung, die auf vielen Frequenzen gleichzeitig Fernsehgeräte ausschaltet. Der Grund für den etwas anarchistischen Ansatz ist für Altman Kritik an den Massenmedien. „Fernseher müssen weg”, sagt der Hacking-Pädagoge. „Sie wurden nicht für uns gemacht, sondern für den Profit der Medienunternehmen. Niemand sonst profitiert von ihnen. Fernseher helfen uns nicht.” Die „TV-Be-Gone“ ist subversive Digitalpädagogik: Sie deaktiviert das Shut-Up-Toy, Jugendliche können ihre ersten Erfahrungen mit Lötkolben und Programmcode machen und dabei über ihren eigenen Medienkonsum nachdenken. „Man kann digitale Medien proaktiv nutzen”, sagt Batthyány, „Je mehr sich Kinder dem Leben hingeben, neugierig sind und Interesse zeigen sich einzusetzen und ins Leben hineinwirken wollen, desto besser.” Mit Elektronikbaukästen spielen und später den Gaming-PC aus Einzelteilen zusammenbauen, hebt passive Medien auf die Mitmach-Ebene.

Das Smartphone als Mitmach-Medium?

Auch Smartphones können Werkzeugkästen für die Medienproduktion sein: Sie sind mit einer Foto- und Videokamera ausgestattet, können Ton aufnehmen, Videos schneiden, Podcasts produzieren und ein selbstgedrehtes Katzenvideo in Sekundenschnelle in ein GIF-Meme verwandeln. Wenn Jugendliche voll fokussiert über ihr Phone gebeugt sind, heißt das nicht, dass sie sich stumpfer Berieselung hingeben. Vielleicht unterhalten sie sich gerade mit Freunden oder organisieren einen Fridays-For-Future-Event. Der Mitmachcharakter des Smartphones muss in der Familie kultiviert werden. „Früher haben die Kinder gesehen: Mama liest gerade die Zeitung, dann geht sie an den Computer und schreibt ein E-Mail. Das ist jetzt nicht mehr gegeben”, sagt Ortega. Das Smartphone ist intransparent. Eltern müssen für ihre Kinder schon früh erkennbar machen, wie sie selbst digitale Medien nutzen, und ihnen die Vielfalt der verfügbaren Medien eröffnen. Gemeinsam Inhalte am Smartphone konsumieren, kann für Kinder reizvoller sein als gedruckte Medien. „In einer Studie wurden Kinder bei der Mediennutzung beobachtet. Da zeigte sich, dass digitale Apps in Begleitung durch eine Bezugsperson förderlich sind. Die Aufmerksamkeit ist besser als beim Buch”, sagt Ortega. „Aufgrund der Interaktion mit dem Smartphone sind die Kinder aufmerksamer. Allerdings nur, wenn sie dabei begleitet werden. Gerade bei den Jüngeren ist das ähnlich wie beim Kinderbuch: Alleine blättert das Kind eineinhalb Minuten und schaut sich die Bilder an. Wenn man das Buch gemeinsam in die Hand nimmt, liest und blättert, sind Kinder länger aufmerksam. Das ist bei den Apps genauso.” Egal welches Medium genutzt wird, wichtig ist die Entschleunigung. Batthyány spricht von der „Reduktion der Ereignisdichte”. „‚Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein zu sein, die Bedingung dafür, in der Lage zu sein, zu lieben‘, sagt der große Psychoanalytiker Erich Fromm. Das heiß auch, wir müssen die Kunst erlernen, mit uns ohne viele Stimulation allein zu sein und es aushalten, dadurch auf uns zurückgeworfen zu sein. Das gelingt nur, wenn wir aufhören, uns ununterbrochen von außen zu stimulieren”, sagt Batthyány. Ein bisschen Langeweile aushalten, ist ein Resilienzfaktor für das Leben in der digitalen Welt. Und offline auch.

Tipps zum Selbermachen

Kinderlieder, Geschichten und Märchen online: „Es gibt viele Angebote, die über Cartoons hinausgehen, recherchieren Sie!”, sagt Zwetelina Ortega.

Arduino: Die Plattform ist einfach programmierbar, es existieren unzählige Anleitungen für Projekte, die wenig Geld kosten und in 90 Minuten realisiert werden können.
arduino.cc

Das Kit „TV-Be-Gone“ mit allen Bauteilen gibt es um rund 30 Euro.

Little Bits: Bauteile, die ähnlich wie die Holzeisenbahn mit Magneten zusammengeklippt werden können, ermöglichen es allen, einfach mal etwas auszuprobieren – ohne Löten oder Vorerfahrung.
littlebits.cc

Raspberry Pi: Der Hosentaschen-Computer ist die ideale Gelegenheit, der digitalen Maschine „unter die Haube“ zu schauen. Elektronik-Baukästen sind auch zum Stecken verfügbar, für alle, die nicht löten möchten.
raspberrypi.org

Scratch: Das Projekt des Massachusetts Institute of Technology (MIT) ermöglicht es, interaktive Geschichten, Spiele und Animationen zu erstellen und Gehversuche mit abstrakter Logik und Programmierung zu machen.
scratch.mit.edu

Robomind: Den Roboter programmieren, sodass er Level erkunden und Probleme lösen kann – ein toll dokumentiertes Computerspiel, bei dem Kinder erste Programmiererfahrung sammeln können.
robomind.net

Axel Beer