Pfeif auf makellos!
Ein kleines Loch, ein Riss, ein abgewetzter Saum: das Aus für T-Shirt, Jacke und Jeans – oder Beginn eines einzigartigen Kleidungsstücks. Durch „Visible Mending“ entstehen Statement-Pieces, die Kreativität, Nachhaltigkeit und Individualität verbinden.
„Früher wurden kaputte Kleidungsstücke noch repariert, heute landen sie einfach im Müll“, seufzen manche. Doch das stimmt längst nicht mehr, sagt Tina Zickler, Leiterin des re:pair Festivals Wien: „Es wird wieder repariert, aber anders. Während frühere Generationen möglichst unsichtbar gestopft oder geflickt haben – aus Scham, die Leute würden denken, man könne sich keine neuen Sachen leisten –, wird das sichtbare Reparieren von Kleidung heute regelrecht zelebriert.“
„Visible Mending“ heißt der Trend, dem man auch auf TikTok, Instagram und Co begegnet. Das „sichtbare Reparieren“ bedeutet, Schäden bewusst zu zeigen und zu betonen: Ein bunter Patch auf dem Loch in der Jeans, kontrastierende Stiche auf einem abgetragenen Pulli, eine auffällige Stickerei auf dem lädierten Kleid – jede Reparatur wird so zum Statement und schenkt dem Kleidungsstück ein zweites Leben als textiles Unikat. Wer näht, stickt oder flickt, gestaltet aktiv seine Kleidung; sie wird Teil der eigenen Handschrift.
Warum dieser Trend besonders bei jungen Menschen gerade so gut ankommt, erklärt Zickler so: „Die Generation Z hat längst erkannt, dass wir sparsamer mit unseren Ressourcen umgehen müssen, wenn wir die Klimakrise in den Griff bekommen wollen. Daher stehen Secondhand-Läden, Kleidertausch-Börsen und Flohmärkte bei ihnen hoch im Kurs. Da ist es auch nur logisch, kaputte Dinge zu reparieren, statt sie einfach wegzuwerfen.“ Dass das Reparieren dabei nicht als notwendiges Übel, sondern als kreativer Akt der Selbstermächtigung verstanden wird, freut die gelernte Mode-Direktrice natürlich besonders.
Reparieren geht über studieren
Warum gerade japanische Techniken so beliebt sind, ist für Zickler wenig überraschend: Schäden sichtbar zu machen, statt sie zu verstecken, ist auch die Grundhaltung mehrerer japanischer Reparaturtechniken. „In Japan wird die Wabi-Sabi-Ästhetik seit Jahrhunderten praktiziert: Sie bedeutet, die Schönheit im Unvollkommenen, Vergänglichen und Schlichten zu erkennen – in Dingen, die Spuren des Lebens tragen. Das steht im völligen Gegensatz zu unserer Kultur, wo jeder Makel sofort weggefiltert und alt automatisch mit hässlich gleichgesetzt wird“, erklärt Zickler. Inspiriert von Kintsugi (siehe LEBENSART 5/2021), das man aus der Keramik kennt, werden daher auch Nähte und Risse mittels Sashiko oder Boro so repariert, dass die Bruchstellen sichtbar bleiben.
Upcycling – Design aus dem Alttextil
Einen Schritt weiter geht Upcycling – hier wird nicht mehr nur repariert, sondern das Produkt neu erfunden. Ein abgetragenes Kleid wird zum lässigen T-Shirt, aus einem alten Hemd entsteht ein Kissenbezug, eine ausgediente Jeans wird zur stylischen Tasche. Alte Handtücher werden zu praktischen Topflappen, Stoffreste verwandeln sich in Bienenwachstücher – die Möglichkeiten sind fast unendlich. Dabei geht es nicht nur um Funktionalität, sondern auch um ästhetische Gestaltung: Furoshiki, die japanische Kunst, Geschenke in Tücher zu wickeln, zeigt, wie stilvoll Upcycling auch im Alltag sein kann. Patchwork und Collagen aus Stoffresten laden zum Experimentieren ein und auch künstlerische Ansätze gewinnen an Bedeutung – wie zum Beispiel Tangling. Zickler beobachtet, dass gerade diese Vielfalt Menschen begeistert: „Upcycling eröffnet unendliche Möglichkeiten, alte Materialien neu zu denken. Es ist kreativ, nachhaltig und macht sichtbar, dass jeder Einzelne Einfluss auf seinen Konsum und die Umwelt nehmen kann.“
Zurück zum Lieblingsstück
Die Jeans mit dem Knieloch – sie wanderte nicht in den Müll. Geflickt, gestopft und gestylt ist sie nun mehr als ein Kleidungsstück. Vielleicht ist genau das der schönste Trend: Kleider, die repariert werden und weiterleben, sind Stücke, die uns nicht verkleiden, sondern unsere Persönlichkeit zeigen. Schenke auch du deinen Textilien ein zweites Leben!
Angelika Kraft
TRENDS
„Visible Mending"
Sashiko ist eine Sticktechnik mit klaren, geometrischen Mustern, die dünn gewordene Stoffe verstärkt oder Boro-Patchwork zu einem Ganzen zusammenwachsen lässt.
Boro nutzt patchworkartige Techniken, um alte Stoffreste zu neuen Textilien zusammenzusetzen.
Strick-Stopfen nutzt traditionelle Techniken, interpretiert diese aber neu (z. B. Scotch- & Swiss-Darning)
Kintsugi ist eine japanische Keramik-Technik: www.lebensart.at/gold-wo-einst-risse-waren
Upcycling
Aus Alt wird Neu: Unbeschädigte Teile von Kleidungsstücken werden zu neuen Stücken aufgewertet. Eine stilvolle Form des Upcyclings kann Furoshiki – das Herstellen von Geschenkverpackungen aus Stoffen – sein.
Patchwork & Collage: Verschiedene Materialien, Farben und Texturen werden miteinander kombiniert, einzigartige Unikate entstehen.
Künstlerisches: Beim Tangling werden Alttextilien zu Skulpturen geformt, die über den praktischen Nutzen hinausgehen.
BORO & SASHIKO for Beginners
Als erstes wählst du einen passenden Stoffrest, um dein beschädigtes Kleidungsstück zu flicken – ideal sind Stoffe aus Baumwolle, Leinen oder Seide. Gröbere, nicht dehnbare Stoffe sind dabei leichter zu verarbeiten. Es gibt eigenes, wenig verzwirntes Sashiko-Garn (traditionell ist weißes Garn auf blauem Grund) und eigene Sashiko-Nadeln, man kann aber auch eine handelsübliche, möglichst lange Nadel mit großer Öse und vorhandenes, möglichst glattes Garn verwenden. Bestickt man mehrere Lagen ist ein japanischer Fingerhut sinnvoll – er wird an der Basis des Zeige- oder Mittelfingers getragen und kann auch selbst hergestellt werden. Außerdem benötigst du eine Schere, ein Lineal und einen wasser- oder hitzelöslichen Stift, um das Muster auf dem Stoff vorzuzeichnen. Es gibt auch eigene Sashiko-Schablonen –man kann sie kaufen oder mit einem 3D-Drucker ausdrucken.
So funktioniert es:
1. Wasche und bügle das kaputte Kleidungsstück sowie den Flicken. Schneide den Flicken etwas größer als das Loch zu, lege ihn von hinten auf die beschädigte Stelle und fixiere ihn mit Stecknadeln oder einigen Heftstichen.
2. Zeichne das gewünschte Muster mit dem wasser- oder hitzelöslichen Stift vor.
3. Nun geht es an das eigentliche Sticken:
Gestickt wird im Vorstich (auch Heft- oder Geradstich genannt): Der Faden wird in regelmäßigen Abständen von vorne hinter den Stoff und wieder zurückgeführt, sodass kleine, gleichlange Stiche und Abstände wie bei einer gestrichelten Linie entstehen.
Schieb den Stoff auf die Nadel, nicht die Nadel durch den Stoff: Anders als beim europäischen Sticken bleibt die Nadel ruhig in der Hand. Bei geraden Linien stichst du eine lange Kette auf, ziehst dann die Nadel ganz durch und glättest Stoff und Garn, bevor du die nächsten Stiche machst. Bei geschwungenen Linien nimmt man eher nur zwei bis drei Stiche auf.
Folge dem kürzesten Weg: Bei vielen Mustern wird auch die Reihenfolge der Linien angegeben.
Am Ende den Faden verknoten oder, ganz klassisch, vernähen und zwischen den Stofflagen verstecken. Dann die Markierung auswaschen oder ausbügeln. Fertig!
FAST FASHION - Warum unsere Kleidung die Umwelt belastet
Die Textilindustrie zählt zu den größten Umweltverschmutzern weltweit: Allein die Produktion von Textilien verursacht rund 1,2 Milliarden Tonnen CO₂ pro Jahr – mehr als Flug- und Schiffsverkehr zusammen – und verbraucht etwa 93 Milliarden Kubikmeter Wasser, vor allem für Baumwolle und Textilveredlung. Chemikalien aus Färbeprozessen belasten Gewässer, beim Waschen synthetischer Fasern gelangen jährlich rund 500.000 Tonnen Mikroplastik in die Ozeane. Insgesamt ist die Textilproduktion für etwa 20 Prozent der weltweiten Wasserverschmutzung verantwortlich. Millionen Tonnen Textilabfälle landen auf Deponien oder in Verbrennungsanlagen, Recycling und Wiederverwendung sind oft unzureichend. Diese Zahlen machen deutlich, wie dringend es ist, unseren Umgang mit Kleidung zu überdenken. Statt ständig neue Stücke zu kaufen, lohnt es sich, auf Reparatur, Upcycling und Second-Hand-Mode zu setzen.
(Quellen: Ellen MacArthur Foundation, UNEP, World Bank, IUCN)