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Kolumbien -- "Ende des Krieges" oder "Krieg ohne Ende"?

Für einen analytisch veranlagten Mitteleuropäer ist es schwer, den widersprüchlichen Eindrücken in Kolumbien irgendeine Logik abzuringen.

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Johannes Wagenknecht

Abendnachrichten im Lokalfernsehen TeleMedellín: Aktuelle Statistik der Minenopfer, Kolumbien nimmt den 2. Platz hinter Afghanistan ein … hochdotierter Wettbewerb für die besten Lehrer der Provinz … Junge Frau von “verlorener” Kugel niedergestreckt … Beschwerde eines Mannes, dass ein Busfahrer seinen Hund angefahren hat … Beschluss der Stadtverwaltung, die mehr als 120 Leichen zu suchen, die Paramilitärs zwischen 2002 und 2004 auf einer Müllhalde verscharrt haben … Fußball …

Meine Frau und ich sitzen danach oft fassungs- und ratlos vor einem Glas Wein in unserer von Videokameras bewachten Mittelschicht-Siedlung. Für einen analytisch veranlagten Mitteleuropäer ist es schwer, den widersprüchlichen Eindrücken irgendeine Logik abzuringen.

Als wir vor einem Jahr zum Vorstellungsgespräch nach Medellín kamen, fühlten wir uns sofort sicher und wohlbehalten, wie uns das in keiner anderen Großstadt zuvor passiert ist. Die Menschen sind sehr freundlich und zuvorkommend. Ein fragender Blick genügt, und schon helfen die Leute bei den Automaten der Metro oder beschreiben geduldig den Weg zu diesem und jenem Ziel … und das in einer Stadt, die noch immer in der Liste der gefährlichsten Städte der Welt aufscheint. Von dieser Liste zu verschwinden, ist auch das oberste Ziel der Stadtverwaltung. Dazu wird einerseits die Polizei massiv aufgerüstet, auf der anderen Seite wird intensiv an der Bekämpfung der extremen Ungleichverteilung gearbeitet.

Die Ungleichverteilung ist zweifellos eine der Ursachen für die seit 50 Jahren anhaltenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Staatsgewalt. Was diesen Konflikt aber so unbezwingbar macht, sind die enormen Einkünfte aus dem Drogengeschäft. Die Finanziers der irregulären Truppen und Banden haben keinerlei Interesse an einer Änderung der Situation. Die Menschen der Mittelschicht -- in der wir uns bewegen -- glauben daher auch nicht an eine politische Lösung des Konflikts. Zu oft wurden sie in den 50 Jahren enttäuscht und zu sehr sind Geld und Macht verwoben. Die vorherrschende Meinung ist, dass nur eine radikale Vernichtung der Koka-Pflanzungen das Problem lösen kann.

Ich kann diese Position nicht beurteilen, aber sie ist eine Erklärung für die geringe Beteiligung bei der Präsidentenwahl und die scheinbar indifferente Haltung der Kolumbianer zu der Frage "Ende des Krieges" oder "Krieg ohne Ende".
Meine Frau und ich leben gerne hier, wegen der freundlichen Menschen, des Klimas, der überwältigenden Natur. Wir wünschen diesem Land von Herzen, dass der Krieg bald ein Ende findet.

Etwas Statistik zum Schluss:

  • Gini-Index = 57,6 -- das ist die 11. Stelle der Negativ-Rangliste (Wikipedia)
  • Kolumbien ist das Land mit den meisten intern Vertriebenen (UNHCR)
  • nach dem HPI-Index, der Zufriedenheit und ökologische Effizienz kombiniert, ist Kolumbien ein Spitzenreiter und liegt an 3. Stelle der aktuellen Liste (Happy Planet Index