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Gold, wo einst Risse waren

Ein Einblick in die japanische Handwerkskunst Kintsugi.

Eine blaue Schale, die mit Kintsugi repariert wurde.
Foto: Marco montalti, iStock

Ein kleiner Schubs und die Schale verliert den sicheren Stand. Eine Hand versucht sie noch zu fangen – „krack!“, trifft das Schälchen auf die Anrichte. Da bleibt nur noch der Weg in den Mistkübel – oder auf die Werkbank, wo eine Landschaft aus Gold entsteht.

Keramikreparatur ist selten befriedigend – oft fehlen kleine Teile, abgeplatzte Stücke sind genauso unschön wie deutlich sichtbare Klebefugen. Es gelingt einfach nicht, ein Objekt in den Zustand zurückzuführen, den es vorher hatte. Aber was, wenn eine Reparatur die Geschichte, die ein Missgeschick erzählt, für genauso wertvoll hält wie das Alter oder die Abnutzung eines geliebten Stücks? Diesen Weg geht die japanische Reparaturmethode Kintsugi, zu Deutsch „Goldverbindung“. Aus einem vermeintlichen Makel wächst neue Schönheit: Schöne Materialien und die Mühe der Reparatur werten das Objekt auf. Die sichtbaren Reparaturstellen – „keshiki“, „Landschaft“ genannt – müssen nicht verborgen werden, sondern heben hervor, wie einzigartig die Bruchmuster und die Geschichte des Stücks selbst sind.

Kintsugi basiert auf dem ästhetischen Prinzip „Wabi Sabi“, das sich seit dem 12. Jahrhundert in Japan entwickelt hat. Ein Prinzip, das Schönheit und Charme im Einfachen, Fehlerhaften und Gereiften findet. Die Technik baut auf der japanischen Lackkunst Maki-e auf, bei der Bilder durch das Einstreuen von Metallpulvern in den noch feuchten Lack entstehen.

Der Lack dafür wird aus dem Harz des ostasiatischen Lackbaums, dem Urushi no Ki, hergestellt. Ausgehärteter Urushi-Lack ist lebensmittelecht, elastisch und beständig gegen Wasser, Alkohol, Lösemittel und Säuren. Er wird mit Eisenoxid und Zinnober rot oder mit Ruß, Eisenoxid oder Eisenfeilspänen schwarz gefärbt und findet sich auf Essstäbchen, Schalen und Bento-Boxen. Ein schimmelabwehrender Tausendsassa mit besonderer Optik, der aber nicht einfach zu verarbeiten ist: Es braucht viele Schichten, bis ein Überzug gelungen ist. Jede Schicht braucht hohe Luftfeuchte und Zeit, um auszuhärten. Für ein glattes Ergebnis muss die Umgebung außerdem möglichst staubfrei sein. Kein Wunder, dass sich die japanischen Meister*innen ins Gebirge zurück- oder ihre Werkstücke aufs Meer hinauszogen.

Eine irdene Teekanne, in drei Stücke zerbrochen.
Foto: Silvia Miklin
Die Teekanne zusammengesetzt - die Bruchlinien sind blassgold.
Für diese Kyusu (Teekanne) kam ein feines Goldpulver (keshifun) zum Einsatz. Durch eine Legierung von Gold und Silber ist die Farbe der der Bruchlinien blasser. Foto: Silvia Miklin

Kintsugi-Grundlagen

Mag. Silvia Miklin-Kniefacz, Restauratorin, Konservatorin und Expertin im Umgang mit ostasiatischem Lack, hat 1988 von einem japanischen Meister die besondere Technik erlernt. Der Ansatz von Kintsugi, der so anders war als bei uns, begeisterte die Restauratorin und Konservatorin – auch wenn es zwei Jahre brauchte, um Urushi zu meistern. „Man muss wissen, wie man damit umgeht. Es steht jahrhundertealtes Wissen und die Erfahrung, auch das Experimentieren mit dem Material dahinter. Man kann nicht einfach eine Dose öffnen und lackieren“, erklärt Miklin-Kniefacz. „Wichtig ist, dass der Lack nicht zu dick aufgetragen wird. Sonst entsteht keine schöne Oberfläche – der Lack bildet Runzeln“, erläutert sie einen typischen Anfängerfehler. Die richtige Dicke ist eine Erfahrungssache – und „Ungeduld ein Problem“, ergänzt sie. Auch sind nicht jeder Pinsel und Lack gleich: Japanischer Urushi-Lack wird im Frühjahr, Sommer und Herbst gezapft – das verändert, wie schnell er aushärtet. Chinesischer Urushi-Lack ist günstiger zu bekommen. Er stellt eine Art Cuvée dar, bei dem die saisonalen Zapfungen nicht so genau getrennt werden. Oft nutzt man für Grundierungen den günstigen, für die Oberfläche den teureren Urushi. Doch enden die Unterschiede nicht beim Rohlack: Um Farblacke herzustellen, wird er unter langem Rühren und Erwärmen weiterverarbeitet. Dabei verliert er Wasser und wird transparent. Dann werden Pigmente beigemischt – unterschiedlich viel, je nachdem ob er für untere oder obere Schichten genutzt werden soll. Für das Aushärten braucht es dementsprechend mal mehr Luftfeuchte, mal weniger. „Traditionell mischen sich die Lackkünstler*innen ihre Farben selbst und können diese Eigenschaften bewusst steuern. Für farbige Lacke ist langsames Aushärten besser, weil sich die Farbe nicht so stark ändert. Härtet Urushi schnell aus, wird er härter und dunkler – das ist andererseits für dünne Schichten vorteilhaft“, erklärt Miklin-Kniefacz.

Während ausgehärteter Urushi gesundheitlich unbedenklich ist, löst der feuchte Lack bei Hautkontakt eine allergische Reaktion aus. Deshalb muss man auch auf eine gute Arbeitshygiene achten. „Wenn man es sich zutraut, kann man es selbst probieren – man muss sauber und sorgfältig arbeiten und sich bewusst sein, was man alles berührt hat, um den Lack nicht zu verteilen. Hände und Pinsel werden mit Öl gereinigt. Man braucht einen Arbeitsplatz, der ungestört ist und natürlich einige Materialien und Werkzeuge“, gibt die Expertin zu bedenken.

DAS KANN MIT KINTSUGI REPARIERT WERDEN

Der Technik sind grundsätzlich kaum Grenzen gesetzt. „Theoretisch geht alles“, bestätigt Miklin-Kniefacz. Gute Haftkraft hat Urushi auf Untergründen, in die es einziehen kann – wie Keramik, Holz, Papiermaché oder Stoffe. Wie erkennt man aber, ob die zerbrochene Lieblingstasse eine Keramik mit offenen Poren oder hartes Porzellan ist? „Geben Sie einen Wassertropfen auf die Bruchkante. Wird er aufgesaugt, so ist das Material porös“, rät die Restauratorin. Aber auch bei geschlossenen Oberflächen gibt es Möglichkeiten: Auf Metall und Porzellan kann die erste Schicht eingebrannt werden, um eine gute Haftung zu erzielen. Die Klebekraft von Urushi kann erhöht werden, indem durch kleine Fräsungen die Klebefläche vergrößert wird, eine Manschette aus Textil oder Papier um die Bruchstelle gelegt oder Klammern gesetzt werden.

So geht Kintsugi

Eine traditionelle japanische Teeschale, ein Teil des Randes ist vergoldet.
Der abgeschlagene Rand der Chawan (Teeschale) des zeitgenössischen japanischen Keramikers Rizu Takahashi wurde mit gröberem Goldpulver (marufun) repariert. Foto: Silvia Miklin

Wagt man sich an die Arbeit, fügt man zuallererst gebrochene Stücke mit einer Mischung aus Urushi-Rohlack (Seshime-urushi) und Hautleim (Nikawa-urushi), Weizenmehl und Wasser (Mugi-urushi) oder Reiskleister (Nori-urushi) zusammen. Dieser Schritt bestimmt die Zeitdauer der Restaurierung, denn der Kleber härtet durch die Luftfeuchtigkeit von außen nach innen aus. Bei fünf Millimeter dicken Porzellanen kann das einige Monate dauern, während die folgenden Schritte jeweils nur ein bis zwei Tage benötigen. Fehlt also nur ein Eck oder ist lediglich die Oberfläche abgesplittert, ist eine Restaurierung in viel kürzerer Zeit, in etwa zwei Wochen, möglich.

Kleine fehlende Stücke werden mit einer Mischung aus Urushi und Tonerde (Tonoko) oder Diatomeenerde (Jinoko) ausgefüllt. Für große Fehlstellen wird die Urushi-Klebermischung mit einem organischen Stoff verbunden, beispielsweise Baumwollfasern oder Holzpulver, bis eine Art Knetmasse entsteht, mit der die Fehlstellen aufgebaut werden.

Ist die Grundstruktur wiederhergestellt, werden die Klebe- und Füllstellen mit Rohlack überzogen und ein bis zwei Schichten schwarzer Urushi (Roiro-urushi) aufgebracht, bis eine glatte Oberfläche entstanden ist. Zuletzt folgt eine Schicht roter Lack (Aka-urushi), in die das Goldpulver eingestreut wird, während die Schicht noch feucht ist. „Feines Goldpulver trägt man neben der Bruchstelle auf. Dann kehrt man es mit dem Pinsel quasi hinein“, erklärt Miklin-Kniefacz. Die Abfolge von Schwarz und Rot hilft zu erkennen, ob die letzte Schicht vollständig aufgetragen wurde, denn nur an ihr haftet der Goldüberzug. Die Körnung des eingestreuten Goldes wird bewusst gewählt: Eine gröbere Körnung lässt zwischen den Körnern Platz für Lack, während bei einer feineren Körnung eine uniformere Oberfläche entsteht. Dies sorgt für zwei ganz verschiedene Optiken. Eine gröbere Körnung kann auch stärker poliert werden als eine feinere. Während das feine Goldpulver mit Fischzahn oder Achat poliert wird, werden die gröberen Pulver wie auch alle anderen Lackschichten mit Holzkohle und Wasser verschliffen. Je nach gewünschtem Abrieb wird dazu Kohle aus dem Holz verschiedener Bäume, zum Beispiel des Tungölbaums, genutzt.

Warum es traditionell die Farben Rot und Schwarz sind, weiß Miklin-Kniefacz: „Der Naturlack hat eine dunkle braune Färbung, deshalb lässt sich nicht mit allen Pigmenten ein schöner Farbton erzeugen. Weiße Pigmente erzeugen beispielsweise eher eine Art Beige. Einige grüne und blaue Pigmente vertragen sich chemisch nicht mit Urushi-Lack – sie verhindern, dass er aushärtet. Mit synthetischen Pigmenten ist heute natürlich eine größere Farbvielfalt möglich.“ Nicht die einzige Weiterentwicklung des traditionellen Materials: Neben dem Hon-Urushi, dem „echten“ Lack, gibt es auch Shin-Urushi, den „neuen“ Lack – eine weiterverarbeitete Form von Urushi, die keine hohe Luftfeuchte mehr für die Aushärtung benötigt. Ebenso gibt es Formen, die keine allergischen Reaktionen auslösen sollen und sogar Materialien wie Glas kleben können.

Wer auf den Geschmack gekommen ist, kann sich in Online-Kursen und Workshops schlau machen. Und wer erst auf den Geschmack kommen muss, kann in der Ausstellung „natürlich japanisch“ in japanische Lackkunst eintauchen.

natürlich japanisch
Silvia Miklin-Kniefacz (urushi / Lackobjekte) und Rie Pomper-Takahashi (nihonga / Malerei)
12. bis 24. Dezember 2021
Atelier ZB
Aumannplatz 2
1180 Wien
www.zb-atelier.at

Eine Werkbank. Auf einem kleinen Bättchen sind zwei Sorten Urushi aufgetragen.
Foto: Motoki Tonn, Unsplash

KLEBER IST NICHT KLEBER

Weil die Verarbeitung von Urushi-Lack nicht trivial ist, setzen die meisten Kintsugi-Reparatur-Sets auf andere Klebstoffe: Manche nutzen Keramik-Kleber, andere Epoxid-Harz. Deshalb sollte man beim Kauf genau auf die Art des Klebers, die Verarbeitungshinweise und seine (Umwelt-)Verträglichkeit achten.

„Urushi ist der traditionelle Weg. Es hat eine lange Haltbarkeit – auch über Jahrzehnte hinweg“, gibt Miklin-Kniefacz zu bedenken. Epoxidharz hat zwar eine bessere Klebekraft bei hochgebrannten Porzellanen, ist aber nicht so langlebig und zumeist nicht lebensmittelecht. „Es gibt verschiedene Lager – die einen sagen, es ist in Ordnung, so verschiedene Materialien zu kombinieren, und führen die Klebung mit Epoxid und den weiteren Aufbau mit Urushi durch. Für andere ist das keine Option“, erklärt die Expertin. Was jedenfalls nur mit Urushi möglich ist, ist die Art der Vergoldung: „Es gibt keinen anderen Lack, mit dem Goldstaub so eine Verbindung eingeht, die geschliffen und poliert werden kann und so einen schönen Glanz ausbildet.“ Cashew-Lack, der fälschlicherweise oft als Urushi vermarktet wird, härtet beispielsweise viel schneller aus, daher hat Goldpulver keine Zeit einzusinken.

Links

Restaurierung Silvia Miklin-Kniefacz: www.urushi.at
Instagram: #silviamiklin

Material: urushi-watanabe.net/en/shopping

Starter Kits, Bildanleitungen und Workshops: www.kintsugioxford.com

Videoanleitung: www.youtube.com/watch?v=gNp1bI6FB3Y

Michaela R. Reisinger

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