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Begeisterung ist Doping für Geist und Hirn

Alles, was Menschen ermutigt und inspiriert, eine neue, andere Erfahrung zu machen als bisher, ist gut für das Hirn und damit gut für die Gemeinschaft - ist Prof. Dr. Gerald Hüther überzeugt. Gastkommentar in der LEBENSART 01/2011.

GeraldHuether
Prof. Dr. Gerald Hüther ist Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Univ. Göttingen und Mannheim/Heidelberg und Präsident der Sinn-Stiftung Hüther

Erinnern Sie sich noch an dieses Glücksgefühl, mit dem Sie sich als kleines Kind auf den Weg gemacht haben, die Welt zu entdecken? An diese unglaubliche Offenheit, Gestaltungslust und Entdeckerfreude? Die meisten Erwachsenen haben nur eine getrübte Vorstellung von dieser den ganzen Körper durchströmenden Begeisterung  Wären diese Erinnerungen präsenter, wären viele Sorgen, Probleme und Nöte des Erwachsenseins gar nicht existent.

Bis zu fünfzig mal am Tag erlebt ein Kleinkind einen Zustand größter Begeisterung. Und jedes Mal kommt es dabei im Gehirn zur Aktivierung der emotionalen Zentren und zur Produktion aller Stoffe, die für Wachstumsprozesse von neuronalen Netzwerken gebraucht werden. Darum werden wir bei allem, was wir mit Begeisterung machen, auch so schnell immer besser.

Damit wir uns für etwas begeistern, muss es bedeutsam für uns selbst sein! Für ein kleines Kind ist noch fast alles bedeutsam. Aber je besser es sich später in seiner Lebenswelt zurechtzufinden gelernt hat, desto unbedeutender wird alles andere, was es in dieser Welt sonst noch zu entdecken und zu gestalten gibt. Wir sind gefangen in Routine. Indem wir älter werden, Erfahrungen sammeln und unsere Lebenswelt nach unseren Vorstellungen gestalten, laufen wir zunehmend Gefahr, im Hirn einzurosten. Wir wissen „wie der Hase läuft“. Wir machen, was getan werden muss. Wir funktionieren. Der Preis dafür ist hoch: für uns verliert das Leben seinen eigentlichen Reiz. Wir haben zwar unser Leben optimal in den Griff bekommen; unsere kindliche Begeisterungsfähigkeit haben wir aber bis zur Leblosigkeit abgewürgt.

Es ist dringend an der Zeit, dass wir als Gesellschaft dieser negativen Entwicklung entgegensteuern. Denn wie es einem einzelnen Menschen mit der fehlenden Begeisterung ergeht, ergeht es auch unserer menschlichen Gemeinschaft. Wir erleben das Tag für Tag in der Familie, der Schule, dem Beruf. Unsere ganze Gesellschaft hat gewissermaßen kollektiv die Begeisterungsfähigkeit verloren. Es fehlt ihr sichtbar an Kreativität, Lebensfreude, Entdeckerlust und Gestaltungskraft. Daher dümpelt sie in eingefahrenen Routinen mit festgefügten Verwaltungsstrukturen dahin. Sie hat alles – scheinbar – im Griff. Sie funktioniert noch, aber sie lebt nicht mehr. So funktionalisiert unsere begeisterungslos gewordene Gesellschaft erst ihre Erwachsenen und am Ende sogar noch ihre Kinder. Die werden mit Wissen abgefüllt, anstatt in ihnen die Fackel der Begeisterung am eigenen Entdecken und Gestalten zum Lodern zu bringen.

So lautet die frohe Botschaft der Hirnforscher: Wer sein Gehirn nicht zu einer Kümmerversion dessen machen will, was daraus hätte werden können, der muss seine kindliche Begeisterungsfähigkeit zurück gewinnen. Menschen, denen es gelingt, ihr Gehirn noch einmal auf eine andere als die bisher gewohnte Weise zu benutzen, die sich noch einmal mit Begeisterung für etwas öffnen, was ihnen bisher verschlossen war, praktizieren Selbstdoping für das eigene Gehirn. Die Wissenschaft nennt diesen Prozess Potenzialentfaltung. Es ist das genaue Gegenteil von dem, was die meisten Menschen gegenwärtig betreiben: bloße Ressourcennutzung.

Familie und Schule bilden ein Beziehungsgeflecht, in dem alle Beteiligten gemeinsam ihre Begeisterung am Entdecken und Gestalten wiedererlangen können. Nur wer in der Lage ist, sich an den Kindern zu begeistern, wird in der Lage sein, ihnen auch genug Begeisterungs-Doping für ihr Hirn mit auf den weiteren Lebensweg zu geben.

www.sinn-stiftung.eu