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Sommer, Sonne, Streit?

Gereizte Menschen, psychiatrische Notfälle, eine höhere Suizidrate: Was Hitze mit der Psyche macht, wie sich erhitzte Köpfe wieder abkühlen und warum man im Sommer mal bei der Nachbarin klingeln sollte.

Mit einer Wärmebildkamera aufgenommenes Foto einer Person, die sich sichtlich gestresst beide Hände mit gespreizten Fingern vor das Gesicht hält. Das Farbspektrum bewegt sich von hellem Gelb über Glutrot bis zu kühlem Blau am Rande.
Foto: Andrej Lisakov/unsplash

Während dieser Text entsteht, rücken die Menschen im Café nebenan ihre Stühle aus dem Schatten und strecken ihre Gesichter der Sonne entgegen. Vor ihnen sattgrüne Wiese, violette Blumen, die sich leicht im Wind bewegen und zweiundzwanzig Grad – ein perfekter Frühlingstag.

In wenigen Wochen wird niemand mehr in der prallen Sonne Platz nehmen. Wenn das Thermometer seit Tagen 30 Grad oder mehr anzeigt, die Luft steht und die Wiese sich gelblich-braun verfärbt, befinden sich die begehrten Plätze im Schatten.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass hohe Temperaturen und brennende Sonne den menschlichen Organismus belasten. Schon lange bevor der Klimawandel zur Bedrohung wurde, verbrannte die Sonne unsere Haut und verursachte Übelkeit und Schwindel, wenn man sich ihr zu lange ungeschützt aussetzte. Was sich geändert hat? Die Hitze kommt – und sie bleibt. Sie rollt in einer Welle über Stadt und Land und nimmt tagelang nicht ab – bis auf die eine bald die nächste Hitzewelle folgt. Auch in den Nächten kühlt es zu wenig ab. In Wien fiel 2024 die Temperatur in 26 Nächten nicht unter 20 Grad. Zum Vergleich: Zwischen 1991 und 2020 zählte man nur ein bis zwei Tropennächte pro Jahr. 

Dr. Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner an der Medizinischen Universität Wien
Foto: Klaus Pichler

DER EXPERTE

Dr. Hans-Peter Hutter
Umweltmediziner an der Medizinischen Universität Wien

Auswirkungen ernster nehmen

Seit einiger Zeit weisen Expert*innen verstärkt darauf hin, wie sehr Hitze auch die Psyche mitnimmt. Das sei, sagt Hans-Peter Hutter, aber noch lange nicht im Bewusstsein der breiten Masse angekommen. Der Umweltmediziner an der Medizinischen Universität Wien forscht zu den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels und zu Strategien, diese zu bewältigen. „Wir müssen die Auswirkungen, die Hitze haben kann, deutlich ernster nehmen als bisher.“ Besonders stark sind Menschen betroffen, die psychisch vorbelastet sind oder an einer psychischen Krankheit leiden. Hitzestress verstärkt ihre Symptome, etwa bei Schizophrenie oder bipolarer Störung. Ist es heiß, treten psychiatrische Notfälle häufiger auf, die Psychiatrien verzeichnen mehr Aufnahmen. Einer der Gründe: Psychisch erkrankte Personen können die höhere Stressbelastung oft nicht mit der Hitze in Verbindung bringen. Sie wissen dann nicht, warum sie erschöpft und gestresst sind – und was sie dagegen tun können.

In einem städtischen Park, der an eine Kirche angrenzt, sitzen mehrere Gruppen von Menschen in Sommerkleidung an Sitzgelegenheiten im Schatten großer Bäume.
Im Sommer 2024 besuchten 9.000 Menschen eine Klimaoase und machten die Erfahrung: Gemeinsam lässt sich vieles besser aushalten als allein. Foto: Stefanie J. Steindl

Plötzlich verwirrt

Ähnlich ergeht es Menschen mit Demenzerkrankung. Kognitive Fähigkeiten, über die sie sonst verfügen, setzen aus, sie sind verwirrter als üblich. Selbst bei älteren Menschen, die nicht an Demenz leiden, kann es zu ungewohnten Verwirrtheitszuständen kommen – häufig ausgelöst durch mangelnde Flüssigkeitszufuhr. Man muss aber weder alt noch dement oder kognitiv eingeschränkt sein, um zu merken, dass sich lang anhaltende Hitze auf das Denken auswirkt. Wenn es besonders heiß ist, fällt es den meisten Menschen deutlich schwerer, sich zu konzentrieren. Das liegt unter anderem am gestörten Schlaf. Klebt nachts das Leintuch am schweißnassen Körper, schläft man schlecht und kommt nicht in die Tiefschlafphasen, in denen sich das Gehirn erholt – und das hat zumindest vorübergehend Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit.
Ältere und geschwächte Menschen leiden verstärkt an Ängsten und depressiven Verstimmungen. Das habe viel mit dem Gefühl der Hilflosigkeit zu tun, erklärt Hans-Peter Hutter. „Viele von ihnen leben allein, vielleicht in einer Wohnung, die sich leicht aufheizt, und können sich oft selbst nicht helfen. Sie können der Hitze nicht entrinnen.“ Das löse Beklemmung aus und Furcht davor, dass es in den folgenden Tagen noch schlimmer werden könnte.

Niedrigere Reizschwelle

Erhitzung seit der vorindustriellen Zeit:
Global + 1,36 °C
Österreich + 2,9 °C

1961-1990 vs. 2024

54        102 Sommertage (> 25°C)
10         45 Hitzetage (> 30°C)
0           3 Wüstentage (> 35°C)
2          26 Tropennächte (> 20°C)
75
Foto: Andrej Lisakov; Grafik: liga.co.at
Mehrere Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Hitze und Aggression. Je höher die Temperaturen, desto angriffslustiger sind Menschen. Das deckt sich mit den Erfahrungen vieler: An Hitzetagen kochen im Straßenverkehr die Emotionen hoch, an der Supermarktkasse sind die Menschen gereizt, zu Hause reißt der Geduldsfaden. Langzeituntersuchungen zeigen, dass häusliche Gewalt in wärmeren Jahren ansteigt. „Long-hot-Summer-Effekt“ nennen Forscher*innen dieses Phänomen: Die Hitze senkt die Reizschwelle, fördert das Gefühl der Überforderung in Job und Familie und erhöht die Gewaltbereitschaft. „Auch Gewaltverbrechen, darunter Morde und Vergewaltigungen, nehmen zu“, sagt Hans-Peter Hutter. Es kommt zu mehr Alkohol- und Drogenmissbrauch. Und die Suizidrate steigt, Schätzungen zufolge mit jedem Grad mehr um einen Prozentpunkt.

Was kann man tun, um die negativen Effekte von Hitze auf die mentale Gesundheit zu mindern?
Grundsätzlich gilt: All das, was bei körperlicher Hitzebelastung hilft, wirkt auch gegen psychischen Hitzestress. Viel trinken, beschattete Orte aufsuchen, die Wohnung kühl halten, indem man nur nachts und morgens lüftet, körperliche Anstrengungen meiden. Alles etwas langsamer angehen.

Genießen, aber Risiko mindern

„An heißen Tagen sollte man sich weniger vornehmen“, sagt die Psychologin Lea Dohm. In der Kürzung der inneren To-do-Liste liege einer der Schlüssel, um unbeschadet durch sommerliche Hitzewellen zu kommen. Und: Noch viel mehr über Hitze und ihre Folgen sprechen. „Hitze ist die größte Gesundheitsgefährdung durch den Klimawandel. An vielen Stellen fehlt dafür das Verständnis“, sagt Dohm. Von der Begeisterung übers Badewetter also auf Alarmismus umschalten? Warnungen in Dauerschleife bringen, im Radio, auf öffentlichen Infoscreens und in den Nachrichten? Dohm hält Panikmache nicht für hilfreich. Aufklärung schon. Eine angemessene Berichterstattung in den Medien könnte so aussehen: unaufgeregte Information über drohende Hitzewellen kombiniert mit Tipps, wie man sich schützen kann. „Hier ist ein feines Maß gefragt: Man darf das sommerliche Wetter natürlich genießen, sollte sich jedoch des Risikos bewusst sein und für die eigene Sicherheit sorgen.“

Lea Dohm, Psychologin, Gründungsmitglied der „Psychologists/Psychotherapists for Future“
Foto: Ben Mangelsdorf

DIE EXPERTIN

Lea Dohm
Psychologin, Gründungsmitglied der „Psychologists/Psychotherapists for Future“

Ins Handeln kommen

Ein gewisses Maß an körperlicher und mentaler Anpassung an die Hitze sei möglich, sagt Dohm. „Alle Maßnahmen stoßen aber irgendwann an ihre Grenzen, wenn wir nicht parallel daran arbeiten, die Erderhitzung abzumildern.“ Dohm ist Gründungsmitglied der „Psychologists/Psychotherapists for Future“, die die psychischen Folgen der Klimakrise in den Blick nehmen. Sich zu fragen, welchen Beitrag man beim Klimaschutz leisten kann, habe noch einen anderen wichtigen Effekt: „Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass sich Menschen weniger ausgeliefert fühlen, wenn sie ihre Handlungsmöglichkeiten kennen und sie gemeinsam mit anderen in die Umsetzung bringen.“ Mit Stress kann man besser umgehen, wenn man seine Ursachen aktiv bekämpft.
Neben gesundheitlich vorbelasteten und älteren Menschen ist eine Personengruppe besonders stark betroffen: armutsgefährdete Menschen. „Viele von ihnen leben in sehr beengten Wohnverhältnissen in Stadtteilen mit wenig Grünfläche und können sich das Kühlen ihrer Wohnung im Sommer genauso wenig leisten wie das Heizen im Winter“, sagt Klaus Schwertner, Caritasdirektor in Wien. Außenjalousien oder Klimaanlagen sind teuer, für Urlaube oder Schwimmbadbesuche fehlt ihnen meist das Geld. Auch für obdachlose Menschen sei die Hitze eine große Herausforderung. Der Beton heizt von unten, die Sonne von oben. Die Möglichkeit, sich kühl abzuduschen oder regelmäßig frische Kleidung anzusehen, fehlt beim Leben auf der Straße.

Klaus Schwertner, Direktor der Caritas in Wien
Foto: Johannes Hloch

DER EXPERTE

Klaus Schwertner
Direktor der Caritas in Wien

Für die Nachbarin einkaufen

„Hitze“, sagt Schwertner, „ist nicht nur ein Wetterphänomen, sondern eine soziale Herausforderung.“ Klima- und sozialpolitische Maßnahmen seien notwendig, klimaresiliente Stadtplanung zum Beispiel Hitzeschutzpläne in Gemeinden oder eine bessere Versorgung von vulnerablen Menschen. Aber ohne ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein, dass man in der Krise zusammenhalten muss, gehe es nicht. Sich also nicht nur um die eigene Sicherheit kümmern, sondern das Umfeld im Blick haben. Welcher Nachbarin kann man an heißen Tagen beim Einkaufen helfen? Wer braucht Unterstützung beim Beschatten oder Lüften der Wohnung oder hinsichtlich der notwendigen Trinkmengen?
Die Caritas verteilt in Wien an Menschen, die akut obdachlos sind, Sonnencreme, Wasser, Kopfbedeckungen sowie Isomatten und Sommerschlafsäcke. Mit den „Klimaoasen“ in Pfarren in Niederösterreich und Wien stehen obdachlosen und armutsbetroffenen Menschen kühle Rückzugsorte in schattigen Gärten und Innenhöfen zur Verfügung.
Sommerfrische, niederschwellig und kostenlos, nennt Klaus Schwertner diese Oasen, die gleichzeitig die steigende Einsamkeit bekämpfen sollen. Im Sommer 2024 besuchten 9.000 Menschen eine Klimaoase und machten die Erfahrung: Gemeinsam lässt sich vieles besser aushalten als allein.

LANGE PAUSE ZU MITTAG?

Lebens- und Arbeitsrhythmen werden sich durch die sommerliche Hitze langfristig wohl ändern. Geht es in Richtung „Siesta“?

In Spanien fahren zu Mittag schon mal die Rollläden vor den Geschäftseingängen runter: Siesta. Ist eine Verschiebung des Lebens- und Arbeitsrhythmus in eine solche Richtung bei uns ebenfalls denkbar? Zu arbeiten, wenn es etwas kühler ist, nämlich eher morgens und wieder am späteren Nachmittag, könnte die Hitzeproblematik entschärfen. Organisatorisch wäre das allerdings schwer umzusetzen. Wer soll morgens die Kinder betreuen, wenn die Eltern schon um sechs Uhr zu arbeiten beginnen, um am frühen Nachmittag wieder zu Hause zu sein? Oder am späten Nachmittag, wenn die Arbeit nach der langen Mittagspause wieder aufgenommen wird? Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen und Arbeitsplätze sind in einem komplexen Gefüge aufeinander abgestimmt.

Eine Person liegt auf einem Sofa und hält ein Schläfchen.
Foto: Adrian Swancar/unsplash

Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik von der Arbeiterkammer Wien, kann die Idee eines veränderten Rhythmus nachvollziehen. Eine „Siesta“ sieht sie aber kritisch. Lange Pausen seien alles andere als arbeitnehmer*innenfreundlich. „Sogenannte geteilte Dienste, wie man sie jetzt schon aus der Reinigung oder der mobilen Pflege kennt, sind für die Arbeitnehmer*innen extrem belastend.“ In der unbezahlten langen Pause würden viele aufgrund langer Wege nicht nach Hause fahren können. Wo sollen Arbeitnehmer*innen hin, wenn es draußen zu heiß ist und es möglicherweise auch am Arbeitsplatz keinen geeigneten Aufenthaltsort gibt?

Arbeitsgesetze nachschärfen

Eher vorstellbar wäre für Pirklbauer das Modell einer Jahresarbeitszeit. An besonders heißen Tagen verkürzt man die Arbeitstage, zu einem anderen Zeitpunkt arbeitet man die fehlenden Stunden ein. Nicht in jedem Beruf wird das möglich sein, im Gesundheitsbereich etwa sind Arbeitskräfte auch an heißen Tagen unabkömmlich. „Bei systemerhaltenden Tätigkeiten muss sichergestellt sein, dass keine Überstunden anfallen und genügend Pausen gemacht werden.“ So könne gewährleistet werden, dass den Arbeitnehmer*innen an den folgenden heißen Tagen nicht die Kraft ausgeht.
Die gesetzlichen Bestimmungen seien bei Weitem nicht ausreichend. „Sie stammen aus einer Zeit, in der die Voraussetzungen ganz andere waren, quasi aus einem anderen Klima.“ Lüftung, Beschattung, Trinkwasser in ausreichender Menge, Sonnencreme: Schutzmaßnahmen hätten oberste Priorität. Die allerletzte Möglichkeit, wenn der Schutz vor der Hitze nicht gewährleistet werden kann: hitzefrei. „Das ist nicht das Ziel, kann aber manchmal notwendig sein.“

Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien
Foto: Lisi Specht

DIE EXPERTIN

Sybille Pirklbauer
Leiterin der Abteilung Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien

Sandra Lobnig

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