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"Weiter weg"

Lesen Sie den Siegertext beim Schreibwettbewerb "Unser Leben - unsere Zukunft" von Lilian Ogrisak

Ein Junge sitzt mit einem Schulbuch vor eine Telekonferenz am PC.
Foto: Marc Thele, Pixabay

Donnerstagmorgen. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte, um Jakob auflachen zu lassen. Seine Haare verliehen ihm das Aussehen einer wild wuchernden Pflanze. Aber das machte ihm nichts mehr aus, da Friseurbesuche in den diversen Lockdowns immer wieder nicht möglich waren.

Außerdem war ihm sein Erscheinungsbild nicht wirklich wichtig. Er gehörte auch nicht zu diesen „coolen Jugendlichen“, die immer anhatten, was gerade im Trend war. Fakt war, dass er auch keine Gruppe hatte, an der er sich vom Aussehen her orientieren könnte, da es für ihn herausfordernd war, Freundschaften zu schließen.

Das Problem war nicht, dass Jakob sonderlich schüchtern oder arrogant gewesen wäre. Schon im Kindergarten hatte er schwer Freunde gefunden, da er große Schwierigkeiten mit körperlicher Nähe hatte. Arzt- und Therapeutenbesuche folgten dieser Eigenheit. Zuerst hieß es, Jakob habe möglicherweise eine Form des Asperger-Syndroms, später meinten Therapeuten, er litte unter einer Angststörung. Das sei der Grund, weshalb er Abstand zu anderen Leuten wahren wolle. Aber Jakob war nicht krank oder ängstlich, er war einfach ein bisschen anders. Irgendwann ließen seine Eltern die Arztbesuche bleiben und er kam in die Hauptschule, später in ein Oberstufengymnasium. Da saß er meistens allein, um niemand anderem nahe sein zu müssen. Einzig der Sportunterricht blieb problematisch, da er für die Mannschaftsspiele nicht zu gebrauchen war.

An diesem Donnerstag stand Jakob ein weiterer Tag zuhause im Distance-Learning bevor. Er musste niemandem zu nahe kommen, und das war toll. Momentan war die Welt um ihn herum fast so, wie er sich das manchmal gewünscht hatte.

Jakob schmunzelte noch ein letztes Mal über sein Aussehen, setzte sich anschließend an seinen Schreibtisch vor den Laptop und klickte den Link für die erste Online-Schulstunde an. Die Lehrerin hielt einen sehr monotonen Vortrag, bei dem er fast einschlief.

Plötzlich begann in der Ecke des Bildschirms etwas zu blinken. Jakob runzelte die Stirn und klickte die Sprechblase an. Maximilian F. stand da. Und darunter „Wie langweilig ist diese Stunde bitte? Kann meine Augen kaum aufhalten.“ Jakob zwinkerte ein paar Mal, das blinkende Icon war verschwunden. Es war nur die Schrift geblieben. Jakob kannte Max, weil er ein Klassenkollege war. Er war das „Muttersöhnchen“ für die Schulkollegen, weil seine Mutter an der Schule unterrichtete und gelegentlich in die Klasse kam, um ihm zu sagen, dass er sich auf keinen Fall etwas Süßes kaufen sollte. Die meisten Mitschüler sprachen nicht mit ihm, sondern mochten es lieber, ihm Schnuller an die Spindtür zu hängen. Trotzdem hatte Max zumindest einen Sitznachbarn, mit dem er sich unterhalten konnte. Max und Jakob selbst hatten schon ein paar Worte miteinander gewechselt, aber nie mehr als das. Sie waren keine Freunde, sie waren höchstens Kollegen.

Trotzdem schrieb er in den Chat: „Geht so. Aber Kaffee soll helfen, hab‘ ich gehört.“ Seine Finger schwitzten, als er auf die Entertaste drückte, da er Angst hatte, die Nachricht versehentlich an die ganze Klasse zu schicken.

Jakob musste über Max‘ Antwort grinsen. „Kaffee ist zu bitter für die Geschmacksnerven eines wahren Gourmets.“

Den Schultag über schrieb er immer wieder Nachrichten an Max, und er genoss es, mal mit jemandem Blödsinn machen zu können. Max stellte keine Fragen, kam ihm nicht zu nahe, roch nicht nach Schweiß, spuckte ihm während des Redens nicht in den Mund. Für jemanden, der Jakobs Schwierigkeiten nicht kannte, mochte das lächerlich scheinen, aber für ihn machte das einen großen Unterschied. Durch nur eine einzige Nachricht fühlte er sich, als hätte er so etwas wie einen Freund gefunden. Warum war es so viel einfacher, jemandem Buchstaben zu schicken als ihm gegenüberzustehen? Warum half Jakob ausgerechnet eine Pandemie, die die ganze Welt in Angst versetzte, jemanden zu finden, mit dem er sich austauschen konnte? Zum ersten Mal bedauerte Jakob es ein bisschen, dass er sich vorher nie mit Max unterhalten hatte, er schien ein netter Kerl zu sein. Aber er wusste schon jetzt, dass diese Freundschaft zum Scheitern verurteilt war. Was würde passieren, wenn sie wieder den Präsenzunterricht besuchen konnten? Max hatte wahrscheinlich noch andere Freunde, mit denen er lieber Zeit verbringen wollte als mit ihm. Jakob seufzte, wenn er daran dachte. Es war nicht so, als ob sich ihm plötzlich der heilige Gral der Freundschaft offenbart hatte, aber… er konnte sich jetzt besser vorstellen, was Gleichaltrige wegen des Lockdowns vermissten.

Trotzdem genoss Jakob das Chatten mit Max. Es wurde regelmäßiger und Jakobs Leistung ließ deswegen merklich nach, da er, wenn sie eine Online-Stunde hatten, nicht mehr auf den Unterricht achtete, sondern darauf, ob die kleine Sprechblase blinkte. Schließlich hieß es, dass die Oberstufenschüler nun in den Schichtbetrieb wechseln würden. Die Aufteilung erfolgte nach dem Alphabet und zum allerersten Mal in seinem Leben war Jakob froh über seinen Nachnamen. Er würde mit Max in der Klasse sitzen.

Es war ungewohnt mit der Maske, aber die restlichen Maßnahmen waren toll. Jeder hatte seinen eigenen Platz, mit Abstand dazwischen. Auch allgemein musste man Abstand halten. Damit war Jakob für seine Mitschüler zwar immer noch ein Außenseiter, aber auch sie mussten jetzt aufpassen, dass sie einander und damit auch ihm, nicht zu nahe kamen. Er genoss es, er hatte das Gefühl, als wären die Maßnahmen nur für ihn eingeführt worden. Dass dahinter eine tödliche Krankheit steckte, war ihm völlig klar, trotzdem konnte er nicht anders als die Regeln zu genießen.

Da sie den Laptop im Unterricht verwenden durften, konnten Jakob und Max weiterhin miteinander kommunizieren, ohne auch nur den Mund bewegen zu müssen.

Doch das war nicht alles. Jakobs Zweifel waren unbegründet gewesen. Max wandte sich nicht von ihm ab, nur weil sie einander wieder persönlich sahen. Er nahm Jakob sogar mit zum Frisbee-Spielen, worin Jakob gar nicht schlecht war, da er dabei niemandem zu nahe kommen musste.

Auf der Wiese stellte Max Jakob seinen Freunden vor, die alle nicht mit den beiden in eine Klasse gingen.

„Das ist Jakob“, sagte er. Er grinste Jakob an, um auf den blöden, aber wahren Wortwitz vorzubereiten, den er gleich machen würde.

„Und er ist mit Abstand der coolste neue Freund, den ich je hatte."                          

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Vize-Bgm. Helga Krismer, Dir. Sonja Haberhauer, Nina Memminger, Lilian Ogrisek, Bgm. Stefan Szirucsek, Gerfried Koch

Lilian Ogrisek, BG/BRG Frauengasse Baden, 7A