Ausgemistet?
Katrin Miseré, Ordnungsberaterin, erzählt, warum Ordnung kein Selbstzweck ist – und wie wir unseren Weg zu einem leichteren Leben schaffen können.
Wieder ist ein Frühling zu Ende, wieder hat man es vielleicht nicht geschafft, den obligatorischen Frühjahrsputz vorzunehmen. Katrin Miseré, Ordnungsberaterin, erzählt, warum Ordnung kein Selbstzweck aber dennoch wesentlich ist – und wie wir unseren Weg zu einem leichteren Leben schaffen können.
LEBENSART: Vorweg eine persönliche Frage: Wie sind Sie dazu gekommen, Ordnungsberaterin zu werden?
Katrin Miseré: Ich wurde vom Leben zwangsinspiriert: Ich Anfang 40 mit zwei kleine Kindern und dann geht der Arbeitgeber in Konkurs. Ich habe überlegt, was ich machen will, was sinnvoll ist und mir zeitliche Flexibilität ermöglicht – dabei ist mir ein früheres Gespräch mit einer Freundin eingefallen: Sie hat im Spaß einmal die Professional Organizer erwähnt – Expert*innen, die dabei helfen Ordnung zu schaffen oder zu halten – weil mir das Ordnung halten so leicht fällt und ich mich so beherzt von Ballast trennen kann. So eine Dienstleistung gibt es in den USA und Großbritannien schon länger, sie wird mittlerweile in vielen Ländern angeboten. Und da dachte ich mir: „Okay - dann bin ich in Österreich die Erste.“ 2012 habe ich mit „Katrin schafft Platz“ begonnen.
Wie hat ihre Arbeit Ihre eigene Einstellung zu Besitz und Konsum verändert?
Ich war nie konsumgetrieben. Natürlich kenne ich dieses „Haben wollen“. Aber ich habe immer eine Wartezeit zwischen den Gedanken und das Kaufen gesetzt. Quasi um zur Besinnung zu kommen.
In meiner Arbeit sehe ich, welche Folgen Überkonsum haben kann. Die Menschen, die mich anrufen, sind ja sehr unglücklich. Fast alle wissen, dass sie in der Vergangenheit über die Maßen konsumiert haben – und auch die Klimawirkung ist dabei oft Thema.
Im Übrigen denke ich, dass wir überhaupt nicht von Konsum sprechen können. Konsum bedeutet "Verbrauch". Aber um den Ver- oder Gebrauch geht es schon lange nicht mehr. Es geht rein um das Gefühl „das ist jetzt meins“ und die Projektion unseres zukünftigen Phantasie-Ich: Wer könnte ich sein, wenn ich xy hätte? Wir verlieren uns selbst inmitten unseres Besitzes.
Wie wichtig ist Ordnung – was macht eine aufgeräumte Umgebung mit uns?
In Gesprächen höre ich immer: sie gibt mir Ruhe. Wir alle haben viele Aufgaben – eine gut funktionierende Ordnung lässt den Alltag glatter laufen und kann mir Zeit schenken. Ich selbst tue nicht viel für die Ordnung, im Sinne von langen Aufräum-Vormittagen. Die wichtigsten Routinen sind meiner Ansicht: gut überlegen, welche Dinge ich in meinen Lebensraum lasse und alles nach Gebrauch sofort wieder an seinen Platz räumen. Das geht nebenher und dafür muss ich mir nicht extra Zeit freischaufeln.
Mir schenkt die Ordnung die Möglichkeit mein Leben freier zu gestalten, meine Zeit freier zu nutzen. Ich mag auch das Gefühl, dass ich mich auf die Ordnung verlassen kann. Im Alltag gibt sie mir Sicherheit: „Das habe ich im Griff.“ Ich weiß genau, was ich reinstecken muss, um genau dieses Ergebnis zu bekommen.
Natürlich ist Ordnung auch hilfreich, wenn mehrere Personen in einem Haushalt leben: Alle wissen, wo etwas ist und wo sie etwas zurückräumen, damit die anderen es auch finden.
Umgekehrt kann Unordnung Selbstzweifel wachsen lassen – „Was ist mit mir los? Warum kriege ich das nicht hin?“ Sie kann Streit mit der/dem Partner*in und Zoff in der Familie befördern. Meine Kund*innen erzählen auch von viel Arbeit und Zeit, die sie in die Ordnung stecken. Allein schon, weil sie ständig daran denken, dauernd dieses To-Do im Kopf haben. Viele kennen den Gedanken „ich würde xy machen - aber erst muss ich mal aufräumen.“ Keine Freunde einladen können, weil man sich ein wenig für das Chaos zuhause schämt.
Wer Ordnung braucht und sie nicht hat, lebt eigentlich im dauernden Stress und kommt nie wirklich zu einer tiefen Ruhe. Man kann das immer mal ausblenden, aber auch das kostet Energie. Mit einem Wort: es ist einfach auslaugend. Natürlich gibt es auch Menschen, die Ordnung dafür nicht brauchen – glückliche Chaot*innen – aber es gibt eben auch uns andere.
Gibt es auch zu viel Ordnung?
Klar. Ordnung ist kein Selbstzweck. Ordnung muss etwas für MICH tun – mir Arbeit abnehmen und Zeit sparen. Ich finde viele Tipps deshalb total unsinnig – zum Beispiel erschließt sich mir überhaupt nicht, warum man alle Lebens- (Mottenschutz jetzt mal ausgenommen) oder Waschmittel umfüllen müsse. Warum die Sachen nicht einfach in den Schrank stellen? Hier wird suggeriert, dass schön geordneter Überbesitz ordentlich aussieht. Wer daran wirklich, wirklich Freude hat, kann das auf jeden Fall machen. Es führt aber nicht automatisch zu mehr Ordnung - wirklich wichtig ist, einen Überblick zu haben und kann alles ohne umständliches hin- und Herschieben wegräumen zu können. Wenn das passt, darf es für mich ruhig auch wild in den Schränken aussehen. Ich bin ein Effizienz-Junkie. Mir ist am wichtigsten, dass die alltäglichen Handgriffe super einfach sind.
Das Mottenproblem entsteht ja auch meist, weil man die Lebensmittel zu lange nicht aufbraucht. Und das passiert, weil man eventuell mehr kauft, als man aufbrauchen kann. Viele meiner Kund*innen berichten mir auch, dass sie ein gespaltenes Verhältnis zur Ordnung haben, weil es bei ihnen in der Kindheit zu rigoros war. Es gab keinen Platz, um sich zu entfalten, oder etwas auszuprobieren. Die Ordnung stand über allem und durfte nicht in Gefahr gebracht werden. So eine Ordnung ist nicht befreiend, sondern massiv einschränkend. Das wäre dann zu viel Ordnung.
Was sind die häufigsten Herausforderungen, denen Menschen gegenüberstehen, wenn es ums Aufräumen und Ordnung halten geht?
Die meisten haben keine festen Plätze für Dinge. Und das haben sie nicht, weil sie zu viele Sachen haben. Meine Kund*innen haben es sich nie wirklich zur Gewohnheit gemacht, auszumisten. Manche sogar noch nie. Viele misten zwar aus, aber eher nur um es getan zu haben und nicht so fundiert, wie wir das gemeinsam machen. Manchmal fehlen auch die Ideen, wie man Dinge effizient verstaut, damit es so einfach wie möglich ist, Ordnung zu halten.
Hat man dann eine gute Basis, macht man das Ausmisten zur Gewohnheit: Dafür sollte jeden Gegenstand man einmal pro Jahr mal neu bewerten. Das geht auch gut nebenher - zum Beispiel bei der Kleidung mit dem Saisonwechsel. Die Küchenhelfer kann man mal zwischendurch ansehen, genauso wie das Geschirr und die Badezimmerartikel. Da braucht es keine wochenlange Hauruckaktion.
Was hilft dabei?
Sich gründlich mit dem eigenen Besitz zu befassen, eine Inventur zu machen und für sich herauszufinden: Was dient mir in meinem Leben? Dabei passiert automatisch Reduktion. Dann gelingt es auch, den Dingen einen festen und sinnvollen Platz zu geben.
Ich bespreche mit meinen Kund*innen sehr genau, wie ihr Alltag aussieht, gebe keine Ratschläge, wo was hinzuräumen wäre, sondern helfe mit Fragen, damit meine Kund*innen selbst herausfinden, wo ein guter Platz wäre. Denn: es hat wenig Sinn, wenn ich die Dinge platziere - mein innerer Kompass funktioniert ja anders, als der meiner Kund*innen.
Warum ist Loslassen beim Ordnung schaffen ein wichtiges Thema?
Eine stabile Ordnung, die man mit wenig Aufwand pflegen kann, gelingt nur wenn man für jedes Ding einen festen Platz hat. Und das gelingt nur, wenn man nicht mehr Dinge hat, als man Raum zur Verfügung stellen kann. Klar - wir alle hätten wohl gerne einen Abstellraum und einen begehbaren Kleiderschrank. Aber unsere Realität sieht eben oft anders aus. Man kann nicht auf 70 m2 wohnen, so tun, als lebe man auf 100 UND gleichzeitig eine stabile Ordnung haben.
Loslassen bedeutet für viele nur eines: Verzicht. Er gibt vielen ein unangenehmes Gefühl der Beschränkung. Aber Verzicht kann auch eine bewusste Entscheidung sein, damit man etwas anderes bekommt. Etwas, das einem wichtiger ist, als alles zu behalten, was man ins Haus gebracht hat: Zum Beispiel Zeit, Ruhe, einen funktionalen Alltag, eine wirkliche Verbindung zu den Dingen und sich für sein Zuhause nicht zu schämen, sondern sich damit zu identifizieren. Dazu kommen Emanzipation von Besitz und den Versprechungen der Werbung und aller, die von uns hauptsächlich eines wollen: das wir als Konsument*innen unsere Aufgabe erfüllen – zu kaufen.
Beim Loslassen kommen unangenehme Emotionen hoch - vor allem ein Verlustgefühl. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass diese Gefühle nicht von Dauer sind. Sie vergehen. Stattdessen wird Platz für andere Gefühle wie Stolz, Freiheit und Zufriedenheit.
Wo kommt es her, dass Menschen nicht loslassen können – warum fällt es vielen schwer, sich von Gegenständen zu trennen?
Die große Unsicherheit: Was passiert, wenn ich das Ding nicht mehr habe? Diese Szenarien, die durch die Gedanken wabern, haben eine große Blockademacht. Auch die Reue spielt - gerade bei Dingen die unüberlegt gekauft wurden - eine Rolle. Man konfrontiert sich mit unangenehmen Erkenntnissen.
Viele verwechseln die Gedanken, die sie dabei haben, mit einer Begründung, ihre Dinge zu behalten. Zum Beispiel: Da hängen Erinnerungen dran. Das ist noch nicht Begründung genug, da darf man ruhig noch ein bisschen weiter überlegen: Welche Erinnerungen? Sind es gute? Wie fühle ich mich dabei, wenn ich daran denke? Habe ich andere Gegenstände, die mich daran erinnern und reichen diese nicht vielleicht aus? Auch über die Geschichte der Gegenstände zu sprechen, kann helfen die sich blockierenden Gedanken zu lösen.
Wie viel Zeit soll man sich für den eigenen Loslass-Prozess nehmen?
Ich würde keine Zeitspanne vorgeben, sondern wirklich alles mal unter die Lupe zu nehmen. Es kommt auch darauf an, wieviel man besitzt und wie lange man schon nicht fundiert ausgemistet hat. Aber pauschal: es ist sicher für die meisten eher ein Marathon und kein Sprint. Man darf sich schon 6-12 Monate Zeit nehmen, weil man ja auch noch ein Leben hat. Ich empfehle auch, jedem Ding genug Zeit zu geben. Mit der Zeit weiß man, welche Kriterien für einen wichtig sind. Dann geht das Entscheiden wirklich flott.
Einige Zeit war Marie Kondos Ausspruch „Does it spark joy?“ allgegenwärtig. Gibt es für Sie Fragen, die anleiten können oder Tipps, wie man den emotionalen Wert eines Gegenstands einschätzen kann?
Den Satz finde ich als ersten Ansatz schon richtig. Aber die eigentlich interessanten Fragen kommen erst danach. Zum Beispiel helfen die Fragen zu den Erinnerungen gut, den emotionalen Wert zu ermitteln. Wäre ich bereit, diese Erinnerung so zu platzieren, dass ich sie jeden Tag sehe? Wenn nicht, warum nicht? Man muss von der banalen Beschreibung „das ist eine Erinnerung“ zu einer Begründung gelangen, die ganz ursächlich nur mit einem selbst zu tun hat. Dann kann man die Dinge beurteilen: Dienst Du mir, oder belastest Du mich, meinen Alltag, mein Leben, meine Gedanken?
Zudem: Meine Socken sparken keine joy. Da müssen andere Fragen her, um hier eine sinnvolle Entscheidung treffen zu können.
Sie sagen „Schöne Erinnerungen brauchen eine Bühne“. Was meinen Sie damit?
Eine Erinnerung, die mich mit wirklicher Freude erfüllt, muss so in den Alltag integriert werden, dass man ganz viel davon hat. Das kann das Regal oder die Vitrine sein, aber auch, dass man zum Beispiel aus alten Konzert-T-Shirts eine Decke oder Kissenbezüge nähen lässt, die man weiterhin nutzen kann.
Was ist mit unangenehmen Erinnerungen?
Die sollten weg. Warum sich mit dieser schlechten Energie umgeben? Man darf an die Dinge, denen man den eigenen Lebensraum zur Verfügung stellt, hohe Qualitätsansprüche stellen.
Gibt es einen Gegenstand, von dem Sie sich selbst nur schwer trennen konnten?
Nein. Entweder ich nutze meine Gegenstände, integriere sie in den Alltag oder sie kommen weg. Natürlich habe ich auch eine Fotokiste. Aber selbst da habe ich schon ausgemistet. Ich bin wirklich unglaublich unsentimental.
Wenn es dann geschafft ist: Was hat man neben Platz noch gewonnen?
Wahnsinnig viel Freiraum: die Gedanken kreisen nicht mehr um die Unordnung, man ist nicht ständig mit To-Dos-konfrontiert, man muss sich nicht mehr über Fehlkäufe ärgern, weil man sie ständig sieht. Viele freuen sich auch über die Zeit, die sie nicht mehr mit Suchen verbringen. Ich denke, dass eigentlich der Suchstress die größere Belastung ist.
Man darf sich über Zufriedenheit über sich freuen: Endlich hat man geschafft, worum man schon so lange kämpft. Und man hat wahnsinnig viel über sich und die wahren Bedürfnisse gelernt. Eine Emanzipation von schädlichem Konsum und schädlichen Vergleichen: „ich sollte auch mal Yoga machen, Gemüse fermentieren, …“. Viele wissen vor lauter Angebot im eigenen Haus schon nicht mehr, was sie eigentlich zufrieden macht.
Und wie schafft man, dass sich der freigewordene Platz nicht gleich wieder füllt?
Das geht mit ein wenig täglicher Disziplin. Dinge nach Gebrauch gleich wegräumen ist die allerwichtigste Routine. Egal ob ich Lust habe oder nicht. Und natürlich ab jetzt: wirklich gut überlegen, was man ins Zuhause bringt.
Ordnung ist immer nur ein Werkzeug für etwas anderes. Sobald man für sich verstanden hat, was dieses andere ist, gelingt das Loslassen aber auch die täglichen Routinen.
Die Expertin
Mag. Katrin Miseré
Ordnungsberaterin
www.katrin-schafft-platz.at
Ordnungberater Österreichs
www.ordnungsberater-oesterreich.at
Das Interview führte Michaela R. Reisinger.
