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Wir brauchen eine Kultur des Miteinander

Was hält unsere Gesellschaft gesund? Interview mit Rotraud A. Perner

Prof. Dr. Rotraud A. Perner (Foto privat)
Prof. Dr. Rotraud A. Perner (Foto privat)

Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Korruption, scheinen in der heutigen Welt zuzunehmen. Was ist der Grund dafür?
Rotraud A. Perner: Ich sehe ihn im Aufschwung der Massenmedien: während bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nur Glaubens- und Monarchentreue - und das ganz offiziell mit Gedichten und Parolen - beworben wurde, setzte mit Film und Radio die geheime Erziehung ein. Die Massenmedien brauchen ja permanent Inhalte, und diesen Bedarf haben professionelle Meinungsmacher erkannt, kommerzielle ebenso wie politische. Aber während Politwerbung nach dem Erstarken der Demokratie penibel beobachtet und eingeschränkt wurde, hat man den Einfluss der Lebensstilwerbung nicht wichtig genommen.

In welcher Weise erfolgt dieser Einfluss?
In Film und und TV-Werbung werden Gier, Neid und damit Ängste, in Konkurrenzsituationen auf der Strecke zu bleiben, geschürt. Gleichzeitig wird der Hochmut bedient: man kümmert sich primär um seine Äußerlichkeiten, baut an seiner Fassade, am Image, und vernachlässigt die inneren Werte wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Liebesfähigkeit.

Wer hat ein Interesse daran?
Alle, die Produkte oder Dienstleistungen anbieten, von denen sich die ewigen Konsumenten – das soll man ja dadurch werden - Abhilfe erwarten; Psychoberufe inbegriffen. Von der Politik erwartet sich kaum mehr jemand Abhilfe – die ist zu abgehoben und unüberschaubar geworden und löst primär Ärger und Zorn aus oder Lethargie.

Wie wirkt sich dieser rücksichtslose Lebensstil auf den einzelnen Menschen aus?
Einerseits versuchen sich viele anzupassen, den Anforderungen an Jugendlichkeit und Fitness zu entsprechen und denken nicht daran, was die natürliche Lebensweise ist, nämlich Ausgleich und Balance: auf Anstrengung muss Erholung folgen, auf Überfülle Entsorgung, auf Gier Verzicht, auf Wut Rückzug, auf die egoistischen Bestrebungen Solidarität und Interesse für Andere. Aber viele fühlen sich schwach und nicht gut genug und strengen sich lieber noch mehr an. Andererseits gilt es auch, Fehlentwicklungen zu erkennen und ihnen gegenzusteuern, und dazu braucht es Zeit zum Nachsinnen, vielleicht auch Gleichgesinnte um Pläne zu entwickeln. Das ist vielen zu anstrengend und sie geben auf.

Was kann man selbst tun, um in diesem System psychisch gesund zu bleiben?
Man sollte sich täglich bewusst machen, dass man mehr ist als nur Konsument  oder Ware am Arbeits- oder Partnerschaftsmarkt, sondern dass unser Leib – das ist die Gesamtheit von Körper, Seele und Geist - gepflegt werden will. Wir müssen uns als ganze Menschen begreifen und nicht Teile abspalten, die uns daran erinnern, dass wir nicht so gut sind wie wir gerne wären. Dafür braucht man die Tugend der Demut – die besteht im Verzicht auf Hochmut.

Was hält unsere Gesellschaft gesund?
Ich sehe die große Gefahr in der Unwilligkeit des Teilens, und dazu zähle ich auch das Mitteilen. Mitzuteilen, wie es einem geht und was man von den Anderen braucht, ist der erste Schritt, Gemeinsamkeit zu erkennen. Uns wird derzeit eingeredet, wir müssten nur noch schneller, fitter, rücksichtsloser werden, dann wären wir die Sieger. Aber dabei bleiben nicht nur mögliche Partnerschaften und das Wohlgefühl von vertrauender Gemeinsamkeit auf der Strecke sondern auch unsere Humanität. Die erwächst ja aus dem Aufeinander-angewiesen-Sein: So wie jede Pflanze Sonnenlicht UND Regen braucht, brauchen auch wir Menschen Zuwendung und die Konfrontation mit Anderen.

Prof. Dr. Rotraud A. Perner, ist Univ. Prof. i. R., Juristin und Psychotherapeutin. Sie lehrt u.a. Gesundheitskommunikation an der Donau-Universität Krems und betreibt ein Institut für Stressprophylaxe und Salutogenese.
Ihr neuestes Buch: „Die reuelose Gesellschaft“, erschienen im Residenz Verlag.

Das Interview führte: Annemarie Herzog

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