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Vorsicht, Essen!

"Es geht nicht mehr ums gemeinsame Genießen und einen entspannten Abend. Es geht nur mehr um Ideologie, um Moral und um „richtige Ernährung“, bedauert Wolfgang Reiter im Gastkommentar.

Letzte Woche waren Freunde bei mir zum Abendessen. Es gab eines meiner Lieblingsgerichte: In Milch geschmorte Kalbsnuss. Aber ausgerechnet Martin, der selbst gerne kocht, hatte vergessen mir zu sagen, dass seine neue Freundin Veganerin ist, für die das, was da bei Ankunft der Gäste im großen Topf so vor sich hin schmorte, dem kulinarischen Gottseibeiuns gleichkam.

Eine attraktive vegane Alternative für den mir noch unbekannten Gast war zwar schnell aus dem Hobbykochärmel geschüttelt, aber der Abend war auch damit nicht mehr zu retten. Es ging nur mehr um vegan oder nicht-vegan. Also um Sein oder Nichtsein. Schlagartig wurde allen Gästen bewusst, dass mit dem Veganismus die political correctness auch in unseren Küchen endgültig Einzug gehalten hat. Denn was wir - Martins Freundin ausgenommen - da auf unseren Tellern hatten, war - ins Vegan-Deutsch übersetzt - nichts anderes als eine in Kuhdrüsensekret geschmorte Babyleiche. Und natürlich konnte Martins Freundin beim Anblick dieses teuflischen Gerichts auch ihren absolut korrekten, in Verjus geschmorten Fenchel mit Tomaten und Oliven nicht genießen.

Es ging nicht mehr ums Essen, nicht mehr ums gemeinsame Genießen und einen entspannten Abend. Es ging nur mehr um Ideologie, um Moral, nur mehr um „richtige Ernährung“, nicht mehr um das gute Leben, zu dem nicht zuletzt auch kulinarische Freuden gehören.

Welch absurde Blüten der Kult um korrekte Ernährung treibt, wurde uns an diesem Abend wieder voll bewusst. Schon das Streben nach Genuss und Lebensfreude stand in der weiteren Folge des Gesprächs unter Generalverdacht, nicht erst die problematischen Wege, die wir dabei mitunter einschlagen. Ja, auch ich habe ein Problem damit, wenn Tiere artfremd gehalten werden, wenn man ihnen aus Kostengründen ein gutes Leben verweigert, sie in Massen in viel zu kleine Ställe zwingt, sie schlecht füttert und mit Medikamenten vollstopft. So wie ich ein Problem habe, wenn Menschen unter unwürdigen Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Anders als Martins Freundin aber stören mich die unwürdigen Bedingungen, unter denen viele Menschen gehalten werden, mehr als artfremde Tierhaltung.

Ich würde bei der Moral zuerst hier ansetzen, bei uns Menschen und bei der Frage, wofür es sich zu leben lohnt. Allein das kann uns helfen, auch bei vernünftigen Entscheidungen nicht maßlos zu übertreiben und damit letztlich unvernünftig (nämlich gegen uns selbst) zu handeln. Es ist nichts verkehrt daran, sich zu bemühen mit seinem Konsum möglichst wenig Schaden anzurichten, also bewusster zu wählen - sowohl bei Qualität wie bei Quantität. Sich unter Berufung auf hohe Ideale ständig zu kasteien aber ist ohne das Gefühl der moralischen Überlegenheit kaum auszuhalten. Und damit verbietet man sich nicht nur selbst den Genuss, sondern verleidet auch allen anderen die Freude am gemeinsamen Genießen. Und am Leben.

Buchtipp:

Dr. Wolfgang Reiter ist Kulturwissenschaftler und publizierte u.a. gemeinsam mit Hanni Rützler „Muss denn Essen Sünde sein?“. Ein Leitfaden für einen entspannten Umgang mit dem Essen, um den Genuss wiederzuentdecken. Erschienen im Brandstätter Verlag.