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Vom Machenwollen zum Gelingen

"Die Menschen müssen immer experimentieren. Wichtig ist, einen Irrtum zu erkennen und daraus zu lernen." Interview mit Prof. Gerald Hüther

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Prof. Gerald Hüther. Foto: privat Prof. Gerald Hüther. Foto: privat

Unsere Zeit ist von großen Veränderungen geprägt. Wir müssen Gewohnheiten loslassen und Neues lernen. Warum fällt uns das so schwer?

Prof. Gerald Hüther: Lebende Systeme organisieren ihre inneren Beziehungen so lange, bis der Energieaufwand für die Aufrechterhaltung des Gesamtsystems so gering wie möglich ist. Das gilt auch für unser Gehirn. Solange dort oben alles gut zusammen passt, wird weniger Energie verbraucht, als wenn wir Probleme haben und nach neuen Lösungen suchen müssen. Das ist anstrengend und verbraucht eine Menge Energie. Deshalb machen wir oft lieber so weiter wie bisher. Auch wenn das langfristig nicht wirklich günstig ist. Auch eine Familie, die sich gut versteht, braucht wenig Energie. Das gleiche gilt für Schulen, Unternehmen und Organisationen. Je konfliktreicher das Zusammenleben ist, desto größer wird der Energieaufwand, um alles noch einigermaßen zusammenzuhalten.

Konkurrenzdenken lässt unsere Gesellschaft erstarren?

Menschen sind soziale Wesen. Wir verdanken all das, was wir wissen und können anderen Menschen, die uns unterstützt haben, unsere Potentiale zu entdecken und zu entfalten. Wenn wir einander begegnen und uns füreinander interessieren, können wir auch gemeinsam nach den besten Lösungen suchen. Wenn wir allerdings mit anderen nur deshalb zusammenarbeiten, weil wir uns einen Vorteil davon versprechen, fühlt sich dieser andere von uns als Objekt benutzt. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird verletzt. Der dadurch ausgelöste Schmerz lässt sich mithilfe der Computer-Tomographie sichtbar machen. Er wird im Gehirn genauso verarbeitet wie ein körperlicher Schmerz. Menschen versuchen dann zu fliehen, anzugreifen, oder wenn beides nicht möglich ist, erstarren sie in Ohnmacht. In unserer gegenwärtigen Konkurrenz-Gesellschaft sind viele Menschen in einer derartigen ohnmächtigen Erstarrung gefangen. Konkurrenz hält eine Gruppe zusammen, aber sie verhindert jede kokreative Weiterentwicklung.

Was treibt uns an?

Unser Gehirn ist so gebaut, dass wir erst lernen müssen, wie das Leben geht. Daher müssen Menschen immer experimentieren, Irrtümer erkennen und daraus lernen. Kinder kommen so begabt auf die Welt, dass sie in jedem Kulturkreis alles lernen, was sie dort brauchen, und zwar in einer „Subjekt-Subjekt-Beziehung“, einer wertschätzenden Beziehung mit ihren Eltern, in lebendigen Begegnungen mit anderen Menschen. Dadurch entfalten sie ihr Potential. In gleichwertigen Beziehungen können Menschen alles lernen und alle Probleme lösen, aber nicht in Beziehungen, in denen einer den anderen zum Objekt seiner Interessen, Absichten, Bewertungen etc. macht.

Wie können wir die politischen Entscheidungsträger zu Entscheidungen motivieren?

Wir können sie nur einladen, sie ermutigen, sie inspirieren, ihr Wissen und Können und ihre Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass alle Menschen die in ihnen angelegten Potentiale entfalten können.

Welche Rolle spielen Regeln?

Regeln sind wunderbar, wenn eine Gemeinschaft die Regeln gemeinsam aushandelt. Es gibt bereits unzählige kleine Gemeinschaften, die unglaubliche Dinge zustande bringen, ohne, dass es politisch geregelt, ja zum Teil obwohl es sogar behindert wird. Wichtig wäre, dass die Politik Rahmenbedingungen schafft, unter denen solche positiven Ansätze für ein künftiges Zusammenleben wachsen und sich ausbreiten.

Dr. Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologe an der Universität Göttingen. Wissenschaftlich befasst er sich mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, mit den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Autor zahlreicher Publikationen. www.gerald-huether.de

Interview: Roswitha M. Reisinger

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