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Fleisch essen ist … normal, natürlich & notwendig?

Interview mit Melanie Joy, der renommierten Harvard-Psychologin, die im Rahmen der Reihe "Nachhaltig in Wien" einen Vortrag gehalten hat.

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Melanie Joy. VHS

Melanie Joy, die auch Professorin für Psychologie und Soziologie an der University of Massachusetts ist, ging einem eklatanten Widerspruch auf den Grund, der typisch für fleischessende Kulturen wie unsere ist: Wir lieben unsere Haustiere, bewundern mit Entzücken die Tiere eines Streichelzoos und kennen alle die Faszination eines Moments, in dem wir im Wald ein Reh vor uns erblicken. Andererseits aber schlachten wir Milliarden von Tiere, um sie zu essen. Joy stellte bei ihren Untersuchungen fest, dass es ein richtungsweisendes aber unsichtbares Konzept dafür gibt, das eine kleine Gruppe von Tierarten als essbar einstuft, die meisten anderen aber nicht. Dieses zugrundeliegende Konzept nennt sie Karnismus. Melanie Joy im Interview:

Was ist Karnismus?

Joy: Karnismus beschreibt das unsichtbare Glaubenssystem, also die Ideologie, die bedingt, dass wir das Fleisch bestimmter Tiere essen. Es ist eine vorherrschende Ideologie, in die wir hineingeboren wurden und die für uns als Norm erscheint. Sie ist allgegenwärtig, institutionalisiert und internalisiert, wir sehen sie nicht. Daher bemerken wir im Alltag kaum, dass Fleisch essen auf einem Glauben beruht. Hingegen betrachten wir aber Veganismus oder Vegetarismus als Ideologien, jedoch ist der einzige Grund weshalb wir Schweine essen und beispielsweise keine Hunde, genau derselbe. Weil wir einer Ideologie unterliegen, die unsere Entscheidungen anleitet – dem Karnismus.

Weshalb der Begriff „Karnismus“? Beschreibt carnivor (Fleisch essend) oder omnivor (Alles essend) nicht dasselbe?

Joy: Die Begriffe carnivor oder omnivor sind nicht akkurat, da sie nur die Handlung per se beschreiben, nicht aber das zugrunde liegende Glaubenssystem. Vegan lebende Menschen begreifen wir z.B. nicht einfach nur als Pflanzenesser_innen. Die Bezeichnung Veganismus macht klar, dass eine Wertehaltung dahinter steckt. Die Benennung dieser Wertehaltung ist von Bedeutung, um das Glaubenssystem hinter unseren Handlungen sichtbar zu machen.

Was war Ihre persönliche Motivation, das Glaubenssystem hinter dem Fleischessen zu untersuchen?

Joy: Ich aß mein halbes Leben lang regelmäßig Fleisch. Eines Tages aber erkrankte ich an einer Lebensmittelvergiftung und bekam damals einen starken Ekel vor Fleisch und Eiern – also stellte ich deren Verzehr ein. Plötzlich öffnete ich mich für Informationen über die Tierlandwirtschaft. Es waren übliche Infos die immer schon zugänglich für mich waren, aber die Gewohnheit des regelmäßigen Fleischessens hielt mich davon ab, diese Informationen wirklich zu verarbeiten. Was ich dann auf einmal zu begreifen begann, schockierte mich: ich realisierte dass weltweit 65 Milliarden Tiere jährlich für ihr Fleisch und andere ihrer Körperteile geschlachtet werden. Und ich realisierte, dass diese Tötungen für mich und große Teile unserer Weltbevölkerung überhaupt nicht notwendig sind. Dabei wurde mir das Ausmaß des Tierleids bewusst, die Umweltzerstörung, das Leid der Menschen, die involviert sind. So begann ich mich zu fragen wie es möglich war, dass ich mein gesamtes bisheriges Leben völlig blind für Dinge gewesen war, die sich ganz klar vor meinen Augen abspielten. Das inspirierte meine Doktorarbeit über die Psychologie des Fleischessens. Ich wollte verstehen, wie eine Gesellschaft aus mitfühlenden und rationalen Menschen in der Lage sein kann, gleichzeitig Teil einer so unmenschlichen und irrationalen Industrie zu sein. Und warum wir uns dabei nicht voll des Ausmaßes unserer Taten bewusst sind.

Wie begründen wir dann überhaupt, Fleisch zu essen?

Joy: Die Frage danach warum wir Fleisch essen, habe ich auch meinen Interviewpartner_innen und Studierenden gestellt. Letztlich lautet die Antwort immer „Weil es halt einfach so ist“. Jede unserer Begründungen läuft immer auf dasselbe hinaus: Fleisch essen sei normal, natürlich und/oder notwendig. Diese Erklärungen repräsentieren die „Drei Ns der Rechtfertigung“. Das ist eine Sammlung von Mythen, die uns im Karnismus legitimiert, manche Tiere zu schlachten und zu essen. Darüber hinaus gibt es noch andere Verteidigunsstrategien auf der kognitiven Ebene. Karnismus verzerrt unsere Wahrnehmung indem es uns lehrt, Tiere als Objekte zu betrachten. Wir bezeichnen sie dann als „Nutztiere“ und sehen sie nur noch als Produktionseinheiten. So werden fühlende Lebewesen dann durch die karnistische Brille zu Abstraktionen, deren eigene Persönlichkeit negiert wird. In der Tierhaltung geben wir ihnen bspw. Nummern statt Namen. Karnismus bringt uns außerdem bei, Tiere in rigide Kategorien einzuteilen, zu denen sich jeweils sehr unterschiedliche Gefühle einstellen und damit die unterschiedlichen Behandlungen begründen. Aber Unterscheidungen zwischen einem Schwein und einem Hund, wenn es um ihre Fähigkeit geht Wohlbefinden und Schmerzen zu empfinden, sind nicht in dem Ausmaß zulässig – falls es überhaupt Unterschiede gibt. Der wahre Unterschied wird in unserer Wahrnehmung vollzogen, er besteht aber nicht in den realen Erfahrungen dieser Tiere.

Zum besseren Verständnis: Gibt es denn auch andere Ideologien, die dem Karnismus ähneln?

Joy: Ja und ich denke es ist sehr wichtig, gewalttätige oder repressive Glaubenssysteme zu vergleichen. Solche Systeme bauen darauf auf, eine Gruppe mit geringerer sozialer Macht zugunsten einer stärkeren Gruppe zu unterdrücken. Das kann Frauen betreffen, aber auch Schwarze oder Menschen aus schwächeren sozio-ökonomischen Hintergründen etc. Karnismus baut auf der Unterdrückung und Ausbeutung von sogenannten Nutztieren auf, zugunsten menschlicher Konsument_innen. Wir dürfen aber die einzelnen Unterdrückungssysteme nicht gleich setzen. Das wäre ungerecht, da die Erfahrung der jeweiligen Opfergruppen immer einzigartig ist. Aber wir haben eine moralische Verpflichtung diese Systeme zu vergleichen, da die Systeme per se strukturell sehr ähnlich sind. Zum Beispiel die eben erwähnten „Drei Ns“, die die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch dazu verwendet wurden, Gewalt und gewalttätige Praktiken zu rechtfertigen. Von der Sklaverei bis hin zum Patriarchat. Egal ob es um die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung geht, oder ob es sich um die Ausbeutung von Individuen handelt, weil sie eben zu einer anderen Spezies gehören. Es ist dieselbe Mentalität, die uns ermöglicht zu unterdrücken, auszubeuten und zu töten.

Sie sprechen von Karnismus auch als gewalttätige Ideologie. Warum?

Joy: Fleisch kann ohne Gewalt schlicht nicht bereit gestellt werden. Auch die Herstellung von Eiern und Milchprodukten fügt den Tieren besonders in der Massentierhaltung massiven Schaden zu. Diese Tiere werden genauso zum Schlachthaus gebracht wie jene, die wir für ihr Fleisch züchten. Auch die Produktion von Bio-Fleisch bedingt extreme Gewalt, wenngleich sie angeblich humane Mittel anwendet. Das Ausmaß der Gewalt, das für die Herstellung von Tierprodukten nötig ist, wäre für die meisten Menschen kaum zu ertragen – vorausgesetzt sie wären sich zur Gänze über die tatsächlichen Vorgänge bewusst und vorausgesetzt, sie könnten ihrem Mitgefühl für die getöteten Individuen freien Lauf lassen.

Bio-Fleisch ist also auch nicht besser?

Joy: Die Bio-Bewegung hat etwas Gutes, da sie bezeugt, dass wir uns als Konsument_innen um die Auswirkungen unseres Konsums sorgen. Wir sind bereit, mehr zu bezahlen um weniger Schaden zu verursachen. Bio-Fleisch bleibt dennoch nichts weiter als ein neuer Mythos des Karnismus. Die Bio-Industrie unterscheidet sich nicht sehr stark von der traditionellen Industrie, wenn es um die Behandlung von Tieren geht. Viele Praktiken gleichen sich, die Tiere werden meist in die selben Schlachthäuser geschickt und das verursachte Leid bleibt nach wie vor beträchtlich. Auch unter den besten nur vorstellbaren Bedingungen, nehmen wir an die Tiere hätten ein gesundes und glückliches Leben, wäre das Töten hier nicht „humaner“. Wir müssen die Grenzen des karnistischen Denkens hinter uns lassen, um wirklich verstehen zu können, wie absurd die Idee von „tierfreundlich“ produziertem Fleisch überhaupt ist. Nehmen wir zum Beispiel einen glücklichen und gesunden Golden Retriever, der im Alter von sechs Monaten „hundefreundlich“ getötet wird, weil Menschen den Geschmack seiner Oberschenkel mögen. Die meisten von uns erkennen die Absurdität dabei. Und doch ist es genau das, was wir Individuen anderer Tierarten antun, wenn wir bio-karnistische Produkte herstellen.

Ist denn eine Welt ohne Karnismus überhaupt erstrebenswert?

Joy: Eine solche Welt ist nicht nur erstrebenswert, sondern notwendig. Das Problem dabei ist vordergründig nicht unser Verhalten, sondern das Bewusstsein dahinter, das dieses Verhalten ermöglicht. Das Bewusstsein, das uns dazu verleitet Tiere zu töten, entspricht derselben Mentalität, die uns bspw. dazu verleitet andere Menschen zu bombardieren. Also stehen nicht Änderungen unseres Verhaltens im Fokus, sondern Veränderungen, die sich aufgrund eines anderen Verhaltens in unserem Bewusstsein vollziehen. Weg von einer verzerrten Wahrnehmung, die Grausamkeiten erst ermöglicht und hin zu einem Bewusstsein, das unser Mitgefühl zulässt und nicht länger blockiert. Es geht um eine Veränderung des Bewusstseins weg von Unterdrückung, hin zu Gerechtigkeit. Weg von Verlogenheit, hin zu Authentizität. Nur wenn wir diese Bewusstseinveränderung vollziehen, werden wir jene gerechte Welt haben, nach der wir uns ganz offensichtlich alle miteinander sehnen – auch für uns Menschen.

Das Interview führt: Elisa Ludwig