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Der unterschätzte Widerstand

Unsere Medien überschlagen sich mit Frontberichten, als wären wir selbst im Krieg. Kein Wunder, dass dabei die sporadischen Meldungen über gewaltfreie Aktionen untergehen. Dennoch spielen diese eine bedeutende Rolle im Widerstand und bei der Wiederherstellung des Friedens.

Menschen demonstieren mit blau-gelben Fahnen und Transparenten gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Auf einem Schild steht:
Foto: unsplash/ev

Ukrainer*innen stellen Straßenschilder um oder verändern sie. Ein Schild zeigt, dass alle Wege nach Den Haag, zum Internationalen Strafgerichtshof, führen. Auf anderen steht: „Russischer Soldat, Putin hat verloren“ oder „Geht weg ohne Blut an euren Händen“. Dies ist nur eine Form des gewaltfreien Widerstandes – der nicht nur in der Ukraine stattfindet: Belarussische Bahnarbeiter kappen Schienenverbindungen, um den russischen Nachschub von Kriegsmaterial zu behindern.

In Russland riskieren Zehntausende bei Demonstrationen ihre Freiheit und ihr Leben. In kreativer Weise schmuggeln Menschen auf Gastro-Bewertungsseiten Kriegsproteste ein. So liest man bei der Bewertung eines der populärsten Fischlokale Moskaus: „Nettes Lokal! Allerdings hat uns Putin mit seiner Invasion der Ukraine die Laune verdorben. Steht gegen euren Diktator auf, hört auf, unschuldige Menschen zu töten! Eure Regierung lügt euch an!”

Gewaltfreie Aktionen sind, rein militärisch betrachtet, vielleicht nur Nadelstiche gegen die gigantische Kriegsmaschinerie. Aber sie haben längerfristig gesehen einen großen strategischen Wert – ihre immense moralische Bedeutung. Denn:

In jedem Krieg kommt es entscheidend darauf an, dass die Kämpfer von der Legitimität ihrer Sache überzeugt sind.

Die strategische Bedeutung der Gewaltfreiheit

Maria Stephan und Erica Chenoweth, Autorinnen von „Why Civil Resistance Works“, haben in ihrer Studie über hundert Jahre „regime change“ nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger ist, um ein diktatorisches Regime zu überwinden, als ein bewaffneter Aufstand. Erfahrungen zeigen, dass gewaltfreie Kampagnen wesentlich mehr Menschen mobilisieren können und bessere Erfolgsaussichten haben.

Gewaltfreiheit darf dabei kein Anhängsel militärischen Widerstands sein – sie muss in eine gewaltfreie politische Vision für eine langfristige Entwicklung der Region eingebettet werden. Denn auch wenn die ukrainische Gegenwehr gegen die russische Aggression berechtigt ist und die Strategie eines schnellen Sieges der Invasoren durchkreuzt hat, hat der militärische Kampf unweigerlich seine Schattenseiten. Dadurch, dass mit Gewalt auf Gewalt geantwortet wird, müssen große menschliche Verluste und immense Zerstörung in Kauf genommen werden. Und je härter der Krieg geführt wird, desto schwieriger sei es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Kurz- und langfristige Friedensvisionen

Ein wesentlicher Unterschied besteht auch darin, dass die militärische Option von einer sehr kurzfristigen Perspektive ausgeht: Widerstand mit immer mehr und effizienteren Waffen, um den eigentlich haushoch überlegenen Gegner zum Rückzug zu zwingen; flankiert von schwersten Wirtschaftssanktionen, die Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen sollen. Nach militärischer Logik ergibt das durchaus Sinn, allerdings verschwendet diese Option keinen Gedanken daran, wie ein nachfolgender Friedensschluss aussehen könnte.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus. Sie setzt auf Verhandlungen statt auf Fortsetzung des Krieges und damit auf die Grundidee jeder Friedenslösung: eine Lösung für alle beteiligten Seiten, eine gemeinsame Sicherheits- und Friedensarchitektur zu finden.

Was wir als Zivilgesellschaft tun können

Die UN-Charta erlaubt ausdrücklich den bewaffneten Widerstand gegen einen Aggressor. Doch die westliche Zivilgesellschaft muss auch einen Beitrag zur Friedenslösung leisten: Friedensforscher Eli S. McCarthy von der Georgetown University, USA, schlägt dazu fünf Punkte vor:

1. Verbreitung und Verstärkung der gewaltfreien Kräfte in der Ukraine und in Russland;

2. Unterstützung der „ (UCP) durch Geldgeber, Regierungen und Institutionen.

3. Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen re-humanisiert werden: Das betrifft die Sprache, das „Labelling“, also das Etikettieren des Anderen, und die gewähltenNarrative.

4. Selenskyj sollte ermutigt werden, mit Russland eine Vereinbarung über die Beendigung des Krieges zu unterzeichnen, um einen Spielraum für die Lösung offener Fragen zugewinnen.

5. Eine Welle von „strategischen Delegationen” mit unverdächtigen Persönlichkeiten sollte humanitäre Luftbrücken einrichten, um Zeit und Raum zu gewinnen.

Ich würde noch hinzufügen:

6. Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern aller Seiten, weil das diejenigen, die nicht zur Waffe greifen wollen, bestärkt und die Legitimität pazifistischer Positionen erhöht.

Weiters müssen wir die Debatte um die politischen Schlussfolgerungen aus diesem Krieg verändern: Bis jetzt dominiert das Narrativ, dass man sich aus der Abhängigkeit russischer fossiler Energie lösen und in einem noch nie dagewesenen Ausmaß Rüstungsanstrengungen unternehmen müsse. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten nicht friedlicher. Dass Putin erwartet hat, auf keinen allzu großen Widerstand des Westens zu stoßen, lag nicht an einer stärkeren oder schwächeren Bewaffnung der NATO – sondern daran, wie leicht es ihm bislang gelungen war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitäne in Europa in sein System einzubinden. Statt einer Rüstungsspirale brauchen wir eine politische Kehrtwende.

Die dritte Aufgabe ist zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung: Kommunikationskanäle zwischen den Kontrahenten zu schaffen, in einer geschützten Atmosphäre Energien für kreative Lösungen freizusetzen und auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene eine Gesprächsbasis aufzubauen. Statt wahllos russische Einrichtungen zu boykottieren, müsste man versuchen, mit vernünftigen Kräften ins Gespräch zu kommen.

Pazifistische Positionen haben es in einer Atmosphäre der emotionalen Anspannung – des berechtigten Zorns auf die russischen Invasoren, der Sorge um die ukrainische Bevölkerung und des Gefühls der Ohnmacht – sehr schwer, gehört und ernst genommen zu werden. Sie sind aber elementar für eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

Foto: privat
Univ.-Prof. i.R. Dr. Werner Wintersteiner

Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Österreich)
werner.wintersteiner@aau.at

Den vollständigen Kommentar finden Sie hier.

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