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30 Jahre nach Tschernobyl: Verstrahlungen von Böden und Natur immer noch messbar

Weite Regionen Europas wurden 1986 durch radioaktiven Fall-Out kontaminiert – auch Oberösterreich war stark betroffen. Noch heute, 30 Jahre danach, sind Langzeitfolgen nachweisbar.

Aktuelle Messdaten weisen eine Bodenkontamination mit Cäsium 137 nach – die noch immer vorhandene Verstrahlung von Böden und Natur ist nach so vielen Jahren ein überdeutlicher Befund dafür, dass es höchste Zeit ist für ein Ende der hochgefährlichen Atomkraft!

Im Frühjahr wurde von Oberösterreichs Landesrat Rudi Anschober die ‚Allianz der Regionen für einen europaweiten Atomausstieg‘ gegründet, um  den Einstieg in den europaweiten Atomausstieg voranzutreiben und eine Renaissance dieser Hochrisikotechnologie zu verhindern. Es geht um das Stoppen von Neubauten von AKW durch ein Unterbinden von geplanten Milliardensubventionen und um das Verhindern von Laufzeitverlängerungen. 2016 und 2017 sind zwei richtungsweisende Jahre für Europa: Denn jetzt wird in der Klage um das britische AKW-Projekt Hinkley Point entschieden, ob Milliardensubventionen für AKW-Neubauten in der EU zulässig sind, und ob Atomenergie als Klimaschutztechnologie anerkannt wird, wie von der Atomlobby angestrebt.

Die Atomindustrie ist heute wirtschaftlich am Ende, was sich besonders problematisch auswirkt: Die 129 in Betrieb befindlichen AKW in der EU sind durchschnittlich bereits 29 Jahre alt. Um die Milliardenkosten für notwendige Stilllegungen aufzuschieben, werden Laufzeitverlängerungen beantragt. Das aber wäre ein gefährliches Experiment: Mit zunehmender Betriebsdauer werden AKW noch riskanter, weil die Anlagen für eine derartige Betriebsdauer nicht ausgelegt sind, und Abnützungen sich verstärken. OÖ wehrt sich dagegen mit der neuen „Allianz der Regionen“ und weiteren Initiativen.

Chronologie

Die Kernkraftwerkskatastrophe  Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des AKWs und wurde erstmals auf der 7-stufigen internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse als katastrophaler Unfall, als GAU, eingeordnet.

Der Unfall ereignete sich bei der geplanten Simulation eines vollständigen Stromausfalls. Auf Grund schwerwiegender Verstöße gegen die geltenden Sicherheitsvorschriften sowie von bauartbedingten Eigenschaften des Kernreaktors vom Typ RBMK-1000 kam es zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg innerhalb von Sekundenbruchteilen auf das Hundertfache des Nennwertes, der zur Explosion des Reaktors führte.

Die Ummantelung der Brennstäbe reagierte mit heißem Dampf, es entstand Wasserstoff. Das explosive Gasgemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff führte zu einer zweiten Explosion und zum Abheben des über 1.000 Tonnen schweren Deckels des Reaktorkerns und zerstörte das nur als Wetterschutz ausgebildete Dach, sodass direkte Verbindung zur Atmosphäre entstand. 250 Tonnen Graphit im Reaktorkern verbrannten während der folgenden zehn Tage, das waren etwa 15 % des Gesamtinventars.

Am 27. April wurden die Blöcke 1 und 2 abgeschaltet und es wurde begonnen, den Reaktor von Block 4 mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm durch Abwurf mittels Hubschrauber zuzuschütten. Zur gleichen Zeit begann die Evakuierung von rund 48.000 Anrainer/innen.

Am 28. April 1986 vormittags wurde im über 1.200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Forsmark in Schweden ein automatischer Alarm aufgrund erhöhter Radioaktivität ausgelöst, wobei sich der Verdacht aufgrund der aktuellen Windrichtung sehr schnell gegen eine kerntechnische Anlage auf dem Gebiet der Sowjetunion richtete.

Danach erfasste der nächste Evakuierungs-Schritt bis zum 3. Mai sämtliche Einwohner/innen aus einem Umkreis von zehn Kilometer um den Reaktor. Weitere 116.000 Menschen wurden am 4. Mai 1986 aus dem Gebiet 30 km um den Reaktor evakuiert. In den folgenden Jahren wurden nochmals 210.000 Einwohner/innen umgesiedelt. Mittlerweile beträgt die Sperrzone 4.300 Quadratkilometer.

In den ersten Tagen erfolgte keinerlei internationale Information, schwere Verharmlosung war auch noch Wochen nach der Katastrophe die Linie der sowjetischen Behörde.

Etwa drei Wochen nach dem Unglück wurde mit Liquidatoren begonnen, den Reaktor zu versiegeln, den stark belasteten Umkreis des Kraftwerks zu säubern und Teile der Umgebung zu dekontaminieren. Die nächste große Gegenmaßnahme bestand darin, das Dach des vierten Reaktorblockes von hoch verstrahltem Material zu reinigen. Über dem havarierten Reaktor wurde ein Sarkophag aus Stahl und Beton errichtet. Um den radioaktiven Staub auf dem Boden zu binden, wurde um den Reaktor mit Hubschraubern eine klebrige Substanz auf Polymerbasis verteilt. In den Siedlungen wurden die Dächer aller Gebäude gesäubert. Auf dem Reaktorgelände wurden 300.000 m³ kontaminierte Erde abgetragen, in Gräben geschoben und mit Beton versiegelt.

Freisetzung von radioaktiven Stoffen

Die größten Freisetzungen radioaktiver Stoffe fanden während des Zeitraums von zehn Tagen nach der Explosion statt. Etwa 15 Prozent der Freisetzung erfolgte schon am 26. April 1986, die Hauptfreisetzung aber verteilt auf die folgenden Tage durch die Zerstörungen aufgrund des Graphitbrandes. Aufgrund der großen Hitze des Graphitbrandes gelangten gasförmige oder leichtflüchtige Stoffe (vornehmlich die relevanten Isotope Cs-137 mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren und I-131 mit einer Halbwertszeit von 8 Tagen) in Höhen von 1.500 bis 10.000 Metern. Die Wolken mit dem radioaktiven Fallout verteilten sich zunächst über weite Teile Europas und schließlich über die gesamte nördliche Halbkugel. Wechselnde Luftströmungen trieben sie zunächst nach Skandinavien, dann über Polen, Tschechien, Österreich, Süddeutschland und Norditalien. Eine dritte Wolke erreichte den Balkan, Griechenland und die Türkei. Innerhalb dieser Länder wurde der Boden je nach regionalen Regenfällen unterschiedlich hoch belastet.

In Russland, der Ukraine und Weißrussland mussten ca. 6.400 km² an landwirtschaftlicher Fläche und Waldgebieten für die menschliche Nutzung aufgegeben werden, die nahe dem Kraftwerk gelegen und dementsprechend sehr hoch belastet waren. Insgesamt wurden etwa 218.000 Quadratkilometer mit mehr als 37 kBq Cs-137 pro Quadratmeter radioaktiv belastet. Mehr als die Hälfte der Gesamtmenge der flüchtigen Bestandteile und heißen Partikel wurden außerhalb dieser Länder abgelagert.

Österreich zählt, aufgrund der damals herrschenden zahlreichen Regenfälle, zu den am stärksten betroffenen Gebieten Westeuropas: Von den insgesamt 70 PBq freigesetzten Radiocäsiums wurden 1,6 PBq, also 2 %, in Österreich deponiert, die durchschnittliche Belastung an Cs-137 aus dem Tschernobyl-Ereignis lag 1986 bei 22 kBq/m², wobei besonders das Salzkammergut und Nachbargebiete, die Welser Heide und die Hohen Tauern betroffen waren, sowie die Niederen Tauern und die Koralpregion / Südostkärnten (mit Durchschnittskontaminationen > 100 kBq/m²). Höhere Werte wurden nur in Weißrussland, Russland und der Ukraine sowie einigen Gebieten Skandinaviens gemessen. Die hohen Cs137-Depositionen in unmittelbarer Umgebung um das Kernkraftwerk ergeben auch heute eine Sperrzone in diesem Bereich. Die Depositionswerte in Kiew jedoch liegen bei nur 30 kBq/m2, in weiten Teilen der Ukraine sogar unter den durchschnittlichen Werten in Österreich von 22 kBq/m2.

Durchgeführte Maßnahmen

Als Maßnahmen nach dem KKW-Unfall in Tschernobyl wurden in Österreich primär Kontrollen im Nahrungsmittelbereich gesetzt: in der ersten Maiwoche ein Verkaufsverbot für Grüngemüse und von Schaf- und Ziegenmilch, der Grünfutterfütterung bei Milchkühen, des Genusses von Zisternenwasser, und langfristiger etwa Importverbote für Nahrungsmittel aus hochbelasteten Agrarproduktionsländern, Verbot des Wildabschusses, Fütterungspläne in der heimischen Landwirtschaft oder Grenzwerte für die Klärschlammausbringung – in späteren Studien hat sich gezeigt, dass diese in der Öffentlichkeit nur wenig beachteten Maßnahmen auf Produktions- und Handelsseite mehr Schutzwirkung gebracht haben als etwa Empfehlungen zu direkten Verhaltensänderungen.

Strahlenexposition in Österreich

Die mittlere Strahlenexposition betrug in Österreich im ersten Jahr nach dem Unfall 0,54 mSv. Davon wurden etwa 0,10 mSv durch die externe Strahlung aus der Wolke sowie von am Boden abgelagerter Radioaktivität verursacht. Der Beitrag durch Inhalation radioaktiver Stoffe in der Luft betrug 0,03 mSv und der größte Beitrag zur Dosis stammte von der Aufnahme kontaminierter Nahrungsmittel. Dieser Beitrag lag bei 0,41 mSv. Mehr als 95 % dieser Dosis wurde durch die beiden Cäsiumisotope Cs-134 und Cs-137 verursacht, zirka 0,03 mSv wurde durch I-131(Radiojod) beigetragen. Bei Kindern war der Beitrag durch I-131 größer, bei 0,2 mSv.

Die Strahlenbelastung ist innerhalb von 30 Jahren von anfangs etwa 0,7–0,4 mSv auf heute unter 1 ‰ der Gesamtstrahlenbelastung (ca. 4,3 mSv/a) gesunken. Insgesamt dürfte der/die durchschnittliche Österreicher/in bis 2006 einer zusätzlichen Effektivdosis von 0,6 mSv durch den Reaktorunfall ausgesetzt gewesen sein.

Aktuelle Messergebnisse in Wildpilzen und Wildfleisch

Der Gehalt an Radionukliden künstlichen Ursprungs, im Besonderen Cäsium-137, in Lebensmitteln wird derzeit im Wesentlichen durch die Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl bestimmt. In Österreich treten bei Wildfleisch und Wildpilzen noch immer höhere Radioaktivitätswerte als in anderen Lebensmitteln auf. Dies insbesondere deshalb, da in bestimmten Ökosystemen, wie in Wäldern, Cäsium nicht so gut im Boden gebunden wird wie in intensiv genutzten Agrarböden. So wird Cäsium nur in geringem Maß gebunden und steht für die Aufnahme in Pflanzen, Pilze und Bodenorganismen weitgehend ungehindert auch über längere Zeiträume zur Verfügung und wird in der Folge von Wildtieren, besonders Wildschweinen, über die Nahrung aufgenommen.

Um einen Überblick zu erhalten, werden diese Lebensmittel von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) routinemäßig auf Radioaktivität untersucht. Konkret liegt der Grenzwert für radioaktives Cäsium in Lebensmitteln bei 600 Bq/kg. Seit 2004 wurden im österreichischen Handel knapp 1.000 Wildfleisch-Proben auf Cäsium-137 untersucht, bei über 90 % der Proben lag der Wert unter 100 Bq/kg. Bei den 219 Proben aus Oberösterreich wurden im Mittel 4,66 Bq/kg festgestellt, der Höchstwert lag bei 1.974 Bq/kg. Im kürzeren Zeitraum, von 2010 bis 2015 wurde in den fast 100 Routine-Proben aus dem Handel aus OÖ keine Überschreitung festgestellt, der höchste Wert lag bei 303 Bq/kg.

Bei Wildfleisch aus höher kontaminierten Waldregionen können aber noch immer Cäsium-Gehalte von über 1.000 Bq/kg auftreten. Für eine neue Studie der AGES wurden v.a. Gebiete ausgesucht, die nach Tschernobyl noch besonders belastet sind, für OÖ wurde der Kobernaußer Wald ausgewählt. Bei den Wildschwein-Proben aus dem Kobernaußer Wald wurde im Schnitt eine Konzentration von 1.750 Bq/kg Cäsium-137 festgestellt. Die höchste Belastung in dieser Studie stammte aus einer Wildschwein-Probe aus dem Dunkelsteiner Wald in NÖ mit 4.710 Bq/kg.

Bei den Pilzen wurden österreichweit besonders die als Speisepilze beliebten Eierschwammerl und Steinpilze untersucht: Auch hier lagen die  Messergebnisse im Mittel deutlich unter dem Grenzwert, allerdings gab es in einigen Fällen bei untersuchten Eierschwammerl aus Österreichs Wäldern Grenzwertüberschreitungen. Häufigere Grenzwertüberschreitungen gibt es nach wie vor bei Maronenröhrlingen. Bei diesen ist nach Meinung der Fachexpert/innen Vorsicht geboten. Völlig ohne Grenzwertüberschreitungen sind Steinpilze und Parasole.

Quelle: Radioaktivität und Strahlung in Österreich, AGES, März 2016

Der gelegentliche Konsum von Wildpilzen oder von Wildfleisch, deren Radioaktivität über dem Grenzwert liegt, stellt nach Meinung der Gesundheitsexpert/innen kein Problem dar, weil unsere sonstigen Nahrungsmittel unbelastet sind und diese Nahrungsmittel nicht in großen Mengen verzehrt werden.

Gesundheitliche Auswirkungen von Tschernobyl

Über die weltweiten gesundheitlichen Langzeitfolgen, insbesondere jene, die auf eine gegenüber der natürlichen Strahlenexposition erhöhte effektive Dosis zurückzuführen sind, gibt es seit Jahren Kontroversen. Die WHO hält insgesamt weltweit ca. 8.000 Todesopfer (davon ca. 4.000 direkt zuzuordnen und weitere ca. 4.000 nachfolgend) für gesichert.

Eine neue Studie des britischen Radiologen und Experten für biologische Strahlenfolgen, Dr. Ian Fairlie untersucht die gesundheitlichen Auswirkungen des Atomunfalls in Tschernobyl. Er rechnet in den kommenden 50 Jahren mit bis zu 40.000 Krebstoten in Westeuropa infolge des Reaktorunfalls - mit bis zu 2.000 in Österreich. Der Wissenschafter geht davon aus, dass zwischen 8 und 40 %  der erhöhten Fälle von Schilddrüsenkrebs in Österreich nach 1990 wahrscheinlich auf Tschernobyl zurückzuführen sind. Die Studie spricht auch von einem erhöhten Auftreten von Leukämie, Herzkreislauferkrankungen und Brustkrebs in besonders stark betroffenen Regionen.

Schilddrüsenkrebs Inzidenz in Österreich

(auf 100.000 Personen; Regression dog-leg)

Quelle: TORCH-2016, Ian Fairlie, PhD; data plot & regression analysis by Körblein (2015)

„Bedauernswerterweise vergisst der Mensch viel zu schnell, anders wäre die Diskussion um einen Ausbau von Temelin, die unbegrenzte Laufzeitverlängerung für das AKW Dukovany oder wären generell Planungen neuer AKW-Projekte nicht zu erklären. Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, dass sich Europa auf einen schrittweisen Atomausstieg zubewegt. Nur so können wir Katastrophen wie jene in Tschernobyl vermeiden, können Sicherheit für die Bevölkerung vor den enormen Auswirkungen von Havarien und Terrorangriffen auf Reaktoren schaffen, können sauberer Energie für zukünftige Generationen den Weg frei machen und damit auch die Geldvernichtungsmaschinen der Kernenergie endgültig abdrehen“, so Umwelt-Landesrat Rudi Anschober.

30 Jahre danach muss Schluss sein mit Sicherheitsbedrohung AKW

Aktuell steht die Auseinandersetzung über die Zukunft der Atomenergie an einer Weichenstellung, die nächsten zwei Jahre entscheiden. 129 Reaktoren sind derzeit in der EU in Betrieb, 29 Jahre sind sie im Durchschnitt alt. Die Auseinandersetzung wird in zwei Bereichen entschieden: 1. Kommt es zum Neubau von AKW – da haben wir gute Chancen, falls es uns gelingt, die geforderte Milliardensubvention zu verhindern. Und 2. gelingt es uns, Laufzeitverlängerungen zu stoppen, denn diese sind besonders riskant.

Die politischen Forderungen:

sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass klare Schutzstandards für die Bevölkerung verankert werden,
eine verpflichtende grenzüberschreitende UVP beim Antrag auf Laufzeitverlängerung,
eine Neuausrichtung von EURATOM hin zu einer europäischen Atom-Ausstiegsgemeinschaft, die einerseits die Umstellung auf erneuerbare Energieträger, aber auch die Stilllegung und den Rückbau von AKW zu ihrem Kernthema macht.